Göttliche Gerechtigkeit
oder
Das Problem des Bösen
Javad Shayvard
Aus dem Englischen übertragen von Fatma I. Kölling
Überarbeitet und herausgegeben von:
Islamischer Weg e.V.
Postfach 1321
27733 Delmenhorst
Neuauflage: 1998
Abkürzungen
a.s. Frieden sei mit ihm bzw. ihnen [caleyhis-sal~m, caleyhumma sal~m]
s.a.s. der Friede sei mit ihm und mit den Reinen seiner auserw@hlten Familie [ allall~hu calayhi wa ~lih§ wa
sallam]
Im Namen Gottes, des Erbarmers, des Barmherzigen
Vorwort
In der Geistes- und Sittengeschichte hat die Frage nach der
Gerechtigkeit Gottes das Denken beinah aller Philosophen bewegt. Der wichtigste Grund für
diese Aufmerksamkeit ist, daß sie sich der Entbehrung, Armut, Ausbeutung und Tyrannei
innerhalb menschlicher Gesellschaftsformen durchaus bewußt waren. Das Wissen um diese
bitteren Tatsachen hat manche dazu geführt, an der Gerechtigkeit Gottes zu zweifeln oder
sogar die Existenz Gottes anzuzweifeln. Andere haben versucht, den scheinbaren Widerspruch
zwischen Gottes Gerechtigkeit und den oben genannten Mißständen irgendwie zu
rechtfertigen.
Dieser Artikel ist ein bescheidener Versuch, zwei Punkte zu beweisen:
1. Die Gerechtigkeit Gottes ist eine Realität.
Wenn Gott gerecht ist, heißt das nicht, daß der Einzelne seine
derzeitige soziale Situation akzeptieren muß; sondern im Gegenteil, daß er sie ändern,
entwickeln soll.
Schließlich habe ich Mohammed Taghi Jaafari und Morteza
Motahhari,
persischen Philosophen, zu danken, daß sie mir ihr Wissen zur Verfügung gestellt haben,
und ich danke Myles Burnyeat, S.M. Noori und S.A. Musawi, die mich ermutigt haben, diesen
Artikel zu schreiben.
Der Verfasser
Kurze Zusammenfassung des Problems
Wenn es einen gerechten Gott gibt, - warum gibt es dann so viel Böses?
Es gibt Tod, Krieg, Erdbeben, Hunger, härteste Lebensbedingungen usw. Darauf folgt das
Argument, daß es entweder keinen Gott gibt oder aber einen grausamen Gott, der sich wie
ein Ungeheuer daran freut, uns leiden zu sehen.
Diese Frage hat man zu allen Zeiten auf unterschiedliche Weise
beantwortet. Einige der Antworten wollen wir kurz näher betrachten:
Gott ist das vollkommene Wesen und Gerechtigkeit ist ein Teil der
Vollkommenheit. Darum ist Gott gerecht.
Somit ist schließlich alle Ungerechtigkeit, die wir in dieser Welt
sehen ins rechte Licht gerückt. Mit anderen Worten: Es gibt nichts, dessen Er bedarf,
Ungerechtigkeit kommt aber entweder aus Unkenntnis und Fanatismus oder aus einem
Bedürfnis, und nichts von all dem ist vorstellbar für das vollkommene Wesen. In der
Wüste Arafat, bevor seine Feinde ihn töteten, sagte Imam Hussain (a.s.): "Du,
Allah, bist so ohne jedes Bedürfnis, das Du Dir selbst nichts geben kannst. Wie aber
könnten dann wir Dir etwas geben?!"
Das Böse ist notwendig für das absolut Gute, den das absolut
Gute ist die höchste (menschliche) Vollkommenheit.1
3. Die Freiheit des Menschen ist die Ursache des Bösen.2
Aus dieser Sicht lassen sich Kriege und soziale Ungerechtigkeiten
erklären, nicht aber Erdbeben, Tod, Krankheit usw..
4. Das Böse ist etwas Negatives.
Leiden - und nicht Böses
Lassen Sie uns etwas tiefer an das Problem herangehen. Zu diesem Punkt
sollten wir wohl sagen, daß wir einen Fehler machen, wenn wir den Terminus
böse oder übel gebrauchen. Wir sollten vielmehr Leid
oder Not und Elend sagen. Damit verstoßen wir nicht gegen die
Realität oder irgendeine logische Notwendigkeit. In dem Terminus 'böse' verbirgt sich
ein Beiklang von Ungerechtigkeit. Wir wollen ihn deshalb möglichst vermeiden, denn es ist
ein so mit Mißverständnissen belastetes Wort.
Maßlose Wünsche
Wenn wir also die konkreten Erfahrungen und die Natur der Dinge
betrachten und dann die inneren und äußeren Faktoren unseres Lebens, sehen wir, daß
sie, wie sie ineinandergreifen, nicht immer mit unserer Sehnsucht und unseren Wünschen
übereinstimmen. Die Maßlosigkeit unserer Wünsche einerseits und die mathematische Natur
des Kosmos andererseits sind Ursache unserer ungerechtfertigten Unzufriedenheit. Wir
möchten z.B. alles wissen; wir wollen die ganze Welt besitzen und dabei von niemand
gestört werden. Wir wollen nicht krank werden. Tatsächlich richten sich aber weder die
Gegebenheiten unseres Lebens noch die Naturgesetze nach unseren Wünschen. Und da unsere
innerste Natur ebenso wie die Welt um uns herum uns keine maßlosen Wünsche erlauben,
recken wir die Arme zum Himmel und sagen: "O Gott! Was ist das für eine böse
Welt."
Aber, jemand, der weiß, daß das Petroleum in seiner Lampe nicht
ausreicht, wird nicht jammern, wenn sie ausgeht. Jemand, der weiß, daß diese Lampe, die
er angezündet hat, nicht windgeschützt ist, wird nicht zetern, wenn der Wind sie
ausbläst. Das System der Natur, die Ordnung des Weltalls ist gleich, und wer darin lebt,
kann nicht aus dem Gang dieser Ordnung ausbrechen. Daher müssen wir akzeptieren, daß es
Leid gibt.
Die Frage, die sich damit stellt, ist vielmehr: Ist es logisch, zu
sagen, daß diese Leiden der Gerechtigkeit widersprechen? Achten Sie bitte darauf, daß
wir hier nicht von durch Menschen verursachte Leiden sprechen: Kriege, Folter, Armut usw..
Die Antwort auf diese Frage ist 'nein', da wir die verschiedenen Formen der Gerechtigkeit
verstehen müssen. Es gibt die emotionale Gerechtigkeit, wie bei einer Mutter, die ihrem
Kind ihre ganze Liebe zuwendet. Es gibt die legale Gerechtigkeit. Und es gibt die
moralische und philosophische Gerechtigkeit. Ich will versuchen, die beiden letztgenannten
zu definieren:
Philosophische Gerechtigkeit: Jedes Ding und jedes Phänomen muß
seinem eigenen Gesetz folgen und so zur Vollendung gelangen.
Moralische Gerechtigkeit: Füge niemand Leid zu.
Philosophische Gerechtigkeit bedeutet: Auch, wenn der Kranke schreit
und klagt, gib ihm die bittere Medizin, die er braucht und tue zu seiner Heilung, was gut
für ihn ist.
Zuschauer und Teilnehmer
Menschen, die mit Mensch und Natur aus nächster Nähe in Kontakt
gekommen sind und dabei nicht bloße Zuschauer geblieben sind, haben nie an Gottes
Gerechtigkeit gezweifelt. Sokrates nahm, als man ihn unter Anklage stellte, den Giftbecher
aus der Hand seines Wärters und trank ihn. Er trank das Gift ohne Angst, denn er hatte
eine große Botschaft für die Menschen aller Zeiten.
Betrachten wir das Leben von 'Ali ibn Abi Talib (a.s.), dem Wunder3
des Propheten Muhammad (s.a.s.) und sein am meisten geliebter Gefährte, so finden wir es
voller Leiden und Not. In seiner Gemeinschaft war er der Beste in seinen Kenntnissen und
in seinem Tun, und das ist nur einer von vielen Vorzügen. Aber er schwieg fünfundzwanzig
Jahre lang um der ideologischen Einheit seines Volkes willen in jener Zeit. Obwohl er die
Kraft und Möglichkeit zum Aufstand hatte, um die Macht zu ergreifen, tat er es nicht und
sah andere herrschen. Fünfundzwanzig Jahre lang nahm er dies seelische Leid an. Später,
als das Volk begriff, wer er war, als sie zu ihm kamen und ihn zu ihrem Führer wählten,
leitete er die Gemeinschaft mit großer Gerechtigkeit, einer Gerechtigkeit, die einen
östlichen Materialisten Slibli Shumayyil, zu den Worten veranlaßte: "Der Führer
Ali ibn Abi Talib (a.s.), ist der Mensch, der weder im Westen noch im Osten, weder gestern
noch heute, seinesgleichen gefunden hat." 4 Imam Ali (a.s.) selbst hat
gesagt: "Wenn ihr mir die Welt geben würdet mit allem, was darin ist, unter der
Bedingung, daß ich einer Ameise auch nur die leere Schale eines Gerstenkorns, nehme, ich
würde es nicht tun."5
Für den Gerechten ist diese Welt voller Leid, Imam Ali (a.s.) hat aber
trotzdem nie gesagt, diese Welt ist böse. Immer sagte er, daß es die Welt der Leiden
sei, seid also bereit, seid auf der Hut. Er sagte auch: "Diese Welt ist der Beste
Ort für den, der sie richtig versteht." 6
Dazu könnte man jetzt sagen: Das ist sehr gut, aber daraus folgt noch
nicht, daß das Problem des Bösen an sich nicht existiert, weil Männer wie Imam Ali
(a.s.) so gesprochen und gehandelt haben. Gut, aber woher kam das Problem des Bösen denn
überhaupt? Aus den Köpfen einiger anderer Menschen, deren Leben weit leichter war als
das von Imam Ali (a.s.), wie Epikur, Hume oder Mill oder sogar ich und du. Betrachtet man
ihre Biographien, so hat keiner von ihnen so sehr gelitten wie der Erstgenannte. Die
Letzteren sind, verglichen mit dem Ersten, weit eher Zuschauer als echte Teilnehmer,
woraus zu sehen ist, wie subjektiv und relativ das Problem des Bösen (des Leids) ist.
Da wir also jetzt wissen, daß das Leid und die Not für den Einzelnen
zum Segen dienen können, wollen wir sehen, was dieser Segen, oder Nutzen im einzelnen
sein kann. Aber, genau an diesem Punkt könnte man sich fragen: Selbst, wenn ich zugebe,
daß im Leiden Sinn und Segen liegt, warum konnte Gott nicht zu dem gleichen Ergebnis
kommen - ohne das Leid? Wenn Er allmächtig und weise ist, warum hat Er uns aufgegeben,
durch all diese Not und all dieses Leid hindurchzugehen, um zu einer höheren Daseinsstufe
zu gelangen?
Auf diese Frage lassen sich viele Antworten finden. Aber es gibt eine
grundsätzliche Antwort, die das Problem an der Wurzel faßt und uns zeigt, wie
kleinmütig und ungerechtfertigt unsere Antworten sind.
Gerechtigkeit heißt: Man hat eine Methode und allgemeine
Ausführungsbestimmungen, gemäß eines Gesetzes (oder einer Reihe von Gesetzen) zu
verfahren. Wir können also Gerechtigkeit gar nicht denken oder begreiflich machen, wenn
nicht für den, der diesem Gesetz entsprechend handeln soll, schon ein Gesetz existiert -
außerhalb seiner selbst. Ein Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten und sein Handeln
nach einem Gesetz (oder einer Reihe von Gesetzen) ausgerichtet sind, das ihm nicht zur
Verfügung steht und von ihm nicht geändert werden kann. In der Gesellschaft besteht z.B.
ein Gesetz, wonach Arbeiter bezahlt werden müssen. Dieses Gesetz ist eine Realität,
außerhalb der Entscheidungsfreiheit Einzelner. Mit anderen Worten, sie können dieses
Gesetz nicht beliebig ändern. Wenn jemand den Arbeiter bezahlt, so handelt er gerecht,
tut er es nicht, so handelt er ungerecht.
Dieses Prinzip der Gerechtigkeit ist auf Gott keinesfalls anwendbar, da
es kein Gesetz gibt, das außerhalb des göttlichen Machtbereiches läge oder Ihm nicht
zur Wahl stände, und kein Gesetz kann Ihn hindern. Deshalb sagen wir, daß Gottes Handeln
dem göttlichen Ziel oder Zweck (hikmah) folgt und nicht den Gesetzen, die wir
mit unserem Wissen und unseren Wünschen schaffen und dann fälschlich mit Seiner
Gerechtigkeit vergleichen. Mit anderen Worten, der Ton in den Händen des Töpfers kann
für den Töpfer keine Gesetze machen und kann die Gerechtigkeit des Töpfers nicht mit
eben den Gesetzen vergleichen.7
Dies war die erste Antwort, welche die Frage völlig aufhebt. Es gibt
auch noch eine andere Antwort auf die Frage. Aber bevor wir uns damit näher befassen,
wollen wir die Frage noch einmal wiederholen: "Warum müssen wir durch all dies von
Gott geschaffene Leid, um eine höhere Stufe (der Vollkommenheit) zu erreichen?" Um
die zweite Antwort zu verstehen, müssen wir die Ordnungen des Daseins - die Stufen des
Lebens - näher untersuchen.
Ordnung des Daseins
Es gibt zwei Ordnungen in den Lebewesen und Dingen der Welt. Wir
könnten sie Längsordnung und Diagonalordnung (Transversale) nennen. Die Längsordnung
ist der Platz der Dinge in der Kette von Ursache und Wirkung innerhalb der Schöpfung. In
der Sprache des Glaubens: die Engel, das Buch Allahs (Qur'an), die das Maß Verkürzenden,
die Feder und so fort, alle zeigen eine gewisse Ordnung, eine Reihenfolge oder Anordnung
im Dasein. Diese Ordnung ist nicht formal, aber notwendig. Denn in dieser Ordnung kann
sich die Flamme eines Streichholzes nicht mit der Sonne messen, und die Umwandlung von
etwas, was möglich ist in etwas Notwendiges ist nicht denkbar.25 Eine Ursache
kann ihren Platz nicht mit ihrer eignen Wirkung tauschen - nicht zur selben Zeit und am
selben Ort. Alle Fehler, die wir machen (mit der Frage), warum dies nicht anstelle von dem
hätte sein können, oder warum etwas Unvollkommenes nicht etwas Vollkommenem Platz machen
kann, kommen daher, daß wir die notwendige und essentielle Beziehung der Dinge zueinander
nicht verstanden haben. Wir vergleichen die existenzielle Ordnung mit konventionellen
Ordnungen und sozialen Strukturen. Wir denken, wenn wir einen Unternehmer mit seinem
Arbeiter austauschen können oder einen Gutsherrn mit einem Bauern, warum könnte dann
nicht ein Schaf ein Mensch gewesen sein. Wenn die ausgebeuteten Arbeiter und das
Proletaritat im Klassenkampf und festem Glauben die reichen Ausbeuter besiegen und an
deren Stelle treten können, warum hätte dann Gott nicht aus einem Lahmen einen
kraftstrotzenden Athleten machen können. Das ist unmöglich, denn daß die Ursache eine
Ursache und die Wirkung eben Wirkung ist, ist weder konventionell noch formal. Wenn 'A'
die Ursache von 'B' ist, dann deshalb, weil es in der Natur von 'A' etwas gibt, das es zur
Ursache gemacht hat. Ebenso hat die besondere Eigenart (Spezifikation) von 'B' es mit 'A'
in Verbindung gebracht, und diese Spezifikation ist nichts anderes als eben die
Eigenschaften, durch die 'B' existiert. Diese besonderen Eigenschaften sind real und nicht
konventionell oder umwandelbar. Nehmen Sie die Zahl 5. Sie kommt nach der 4 und vor der 6.
Man kann 5 nicht irgendwo sonst hinsetzen, ohne daß es seine Identität verliert. Wenn
Sie es, sagen wir, vor die 4 setzen, wird es zu einer 3, auch wenn Sie es 5 nennen. Sie
können die Realität oder Identität von 3 nicht ändern, indem Sie den Namen ändern.8
Zwischen allen Geschöpfen des Universums besteht eine so tiefe und
existentielle Ordnung. Wenn Sie irgendetwas von seinem existentiellen also ursprünglichen
Platz fortnehmen, wird es seine Substanz verlieren und nicht mehr dasselbe sein. Wenn Sie
einem Dreieck vier Seiten geben statt drei, ist es kein Dreieck mehr: Tatsächlich ist es
dann ein Viereck. Bei Ibn Sina (Avicenna) findet sich dazu ein schöner Ausspruch. Er
sagte: "Gott hat nicht aus Aprikosen Aprikosen gemacht, sondern Er hat Aprikosen
erschaffen." Das soll heißen, daß es keine Entwicklungsstufe gab, in der alle
Früchte gleich waren, und dann machte Gott Unterschiede zwischen ihnen. Jede Frucht ist
einmalig und einzig. Diese Einzigartigkeit ist ebenso auf unterschiedliche Wesen und
Personen anwendbar. Im Qur'an heißt es:
"... Unser Herr ist Der, welcher jedem Ding seine Natur gegeben
hat und es leitet." (Heiliger Quran 20:50)
An anderer Stelle heißt es:
"Unser Wort zu einem Ding, so wir es wollen, ist nur, daß Wir zu
ihm sprechen: "Sei!" und so ist es." 9 (Heiliger Quran
16:40)
Lassen Sie uns nun zur Diagonalordnung übergehen: Die diagonale
oder transversale Ordnung bestimmt die zeitlichen und materiellen Voraussetzungen eines
Phänomens. Und eben diese Ordnung gibt der Geschichte eine definitive und bestimmte Form.
Der Qur'an spricht von dieser Ordnung des Daseins so:
"... und nimmer findest du in Allahs Brauch einen Wandel." (33:62)
Einige dieser deterministischen Gesetze werden im Qur'an
erwähnt, wie dieses Gesetz:
"Siehe, Allah verändert nicht die Lage eines Volkes, bevor es
nicht selbst seine eigene Lage ändert." (Heiliger Quran 13:11)
Ein wunderbarer Satz aus einem wunderbaren Buch.
Fassen wir nun diesen Abschnitt zusammen:
Das Universum hat Ordnungen und notwendige Gesetze, und jedes Phänomen
befindet sich innerhalb dieses Systems. Auch unsere Freiheit ist in Harmonie mit diesem
System.
Damit das Universum eine Ordnung haben kann, muß es Unterschiede geben
und Entwicklungsphasen; und darin liegt die Ursache der Unvollkommenheiten.
Unterschiede werden nicht erschaffen. Sie sind ein notwendiges Merkmal
der Geschöpfe, und Gott hat zwischen den Geschöpfen keinen Unterschied gemacht (Er kennt
keine Bevorzugung oder Benachteiligung).
Was gegen die Gerechtigkeit geht, ist Diskriminierung, und nicht
Unterscheidung. Im Universum gibt es Unterschiede, nicht aber Diskriminierung.
Nachdem wir nun diesen Abschnitt verstanden haben, wollen wir uns dem
Segen (oder Nutzen) des Leids für den Menschen wieder zuwenden.
Segen und Sinn des Leids
Nur durch Leid und mancherlei Not kann der Mensch wahres Glück und
Wohlergehen erlangen. Der Heilige Qur'an sagt:
"... Drum siehe: Mit dem Schweren kommt das Leichte. Und wenn du
Zeit hast, dann mühe dich weiter, und trachte nach deinem Herrn." (94:5-8)
Hegel sagt: "Kämpfe und Widrigkeiten ('Leid', um genau zu sein)
sind keine bloße Einbildung: Sie sind sehr real, und mit offenen Augen angenommen, sind
sie Stufen der Entwicklung hin zum Guten. Kampf ist das Gesetz des Fortschritts. Die
menschlichen Eigenschaften entwickeln sich nach und nach und bilden sich erst auf dem
Schlachtfeld und im Getümmel dieser Welt, und nur durch Not, Verantwortung und Kummer
kann man zu hoher Vollkommenheit gelangen. Das Leben dient nicht der Befriedigung,
sondern der Entwicklung (Evolution)."
Ali Ibn Abi Talib (a.s.) schrieb in einem seiner Briefe an Osman ibn
Hanif, seinen Statthalter in Basra, daß ein Leben in Bequemlichkeit und Luxus, in dem
alle Schwierigkeiten aus dem Wege geräumt sind, in Schwäche und Kraftlosigkeit endet,
während ein Leben unter harten Bedingungen einen Mann kraftvoll und wendig macht und sein
Wesen zu immer größerer Vollkommenheit wandelt. Er macht ihm - Osman - in dem Brief auch
Vorwürfe, weil er mit den Reichen gegessen habe, die keinem Armen erlaubten, an jenem
Abend dabei zu sein. Dann nennt er das Beispiel der Bäume in Wäldern und Gärten. Obwohl
die Bäume im Garten regelmäßig und mit großer Sorgfalt gepflegt werden, hat doch der
Baum im Wald, auf den man kaum achtet, die bessere Qualität.
Und darum gilt: Wenn Gott voll Güte ist zu einem Menschen, dann
schickt Er ihm Not und Leid. (Genau das Gegenteil von dem, was die meisten Menschen
annehmen). Imam Muhammad Baqir (a.s.) hat gesagt:10 "Allah hilft, dem,
der an Ihn glaubt, und schickt ihm Not und Leid wie Geschenke, die ein Mann seiner Familie
schick."11 Imam Ja'far as-Sadiq12 hat gesagt: "Wenn
Allah Seinen Knecht liebt, ertränkt Er ihn im Meer des Leids. "13
Wie ein Schwimmlehrer, der seinen neuen Schüler ins Wasser wirft,
damit er kämpft und schwimmen lernt, ebenso macht es Allah mit denen, die Er liebt. Wenn
jemand ein Leben lang alles über das Schwimmen liest, wird er doch nicht lernen, wie man
schwimmt. "Das schwerste Leben hatten zuerst Propheten, dann die, die ihnen in der
Vollkommenheit (Tugend) gefolgt sind."14 Sa'di aus Shiraz sagt:15
"Sa'di hat sein ganzes Leben in Bitterkeit verbracht, damit euch sein Name süß
und voll Wohlklang ist, wenn ihr ihn hört."
Den erzieherischen Aspekt des Leids sehen wir bei Rumi16,
dem großen moslemischen Philosophen und Dichter des 13. Jahrhunderts, der das mit diesem
Gleichnis eindringlich erklärt: "Sie streuten Samen in die Erde; dann kamen Halme
heraus. Darauf wurde es in der Mühle gemahlen; in Brotform wurde es größer und
nützlicher. Dann haben die Zähne das Brot zerkaut und, nach der Verdauung wurde es Geist
und sinnvoller Gedanke. Und wiederum: Als dann Liebe den Geist verwirrte und bestürzte -
was war das für eine überraschende Entwicklung und Veredelung!"17
Ein weiterer allgemeiner Standpunkt, den wir hier erwähnen sollten,
ist: Gegensätze erzeugen Gegensätze. Sein und Nichtsein, Leben und Tod, Fortdauer und
Unbeständigkeit, Jugend und Alter sind miteinander verbunden. Diese Dialektik ist das
Naturgesetz dieser Welt. Sa'di hat gesagt: "Schatz und Schlange und Blume und Dorn
und Sorge und Glück kommen zusammen."18 Rumi kann diesen Punkt wieder
ganz und klar machen, wenn er sagt: "Not kann den Schatz bringen und Glück liegt
in der Not. Wenn man die Schale abschält, liegt der Kern frisch und rein frei. O Bruder!
Dunkle und kalte Orte, mit der Sorge kämpfen, sich wehren gegen Trägheit und Schmerz -
das ist Quelle das Lebens und (geistiger) Trunkenheit; denn alles Große liegt im
Geringen."19 Wenn wir also wahre Glückseligkeit erlangen wollen,
müssen wir durch alle schweren Phasen hindurch. In der Tat, große Männer haben Folter,
Armut, Gefangenschaft, Entbehrung und selbst den Tod erlitten, und gerade darum sind sie
groß geworden.
Wir wollen diesen Abschnitt beschließen mit einem Ausspruch von Mulla
Sadra20: "Gäbe es nicht den Widerspruch im Leben (des Universums), so
wären die fortdauernden Segnungen (Gnadengaben) des barmherzigen Gottes nicht möglich
gewesen."21
Das Problem des Todes
Eine weitere wesentliche Frage, die sich aufdrängt, wenn wir über
unser Dasein und die Gerechtigkeit Gottes nachdenken, ist der Tod. Wenn Gott gerecht ist,
wie kann dann der Tod unser entwickeltes und geläutertes 'Ich' nach der langen und
mühsamen Schule unseres Lebens zerstören?
Die Antwort lautet: Er tut es ja nicht. Gründe dafür gibt es einige,
vor allem: Durch alle Seine Propheten hat Gott uns gesagt, daß der Tod nicht das Ende der
Geschichte unseres Lebens ist. Da ich voraussetze, daß Sie an Gott glauben, ist dieser
Beweis ganz wesentlich. (Sie wissen, daß sich das Problem des Bösen oder des Leids erst
stellt, wenn man voraussetzt oder weiß, daß Gott existiert). Es gibt viele
Möglichkeiten, unser Leben nach dem Tode zu beweisen. Abgesehen von experimentellen
Beweisen wie Telepathie, zweites Gesicht, Träume und Verbindung mit den Toten gibt es
viele ganz rationelle, wie der Beweis, der auf der Grundlage von Wunsch und Erfüllung
argumentiert.
Für jeden Wunsch in uns gibt es etwas in der Welt, das ihn
befriedigen, erfüllen will. Unser Durst kann vom Wasser gestillt werden, unser Hunger mit
Nahrung, unsere Liebe mit dem Geliebten. Sexuelle Wünsche erfüllen sich durch das andere
Geschlecht. Unser Wunsch nach Wissen wird durch Wissen befriedigt. So ist jeder Wunsch und
jede Fähigkeit ein Beweis dafür, daß es eine Vollkommenheit gibt, auf die unsere
Wünsche ausgerichtet sind. Diese Vollkommenheit ist das Ziel all unserer Wünsche. Wir
haben also dieses mächtige Verlangen in uns, vor allem das Verlangen, ewig zu sein. Wenn
wir ein wenig in uns hineinhorchen, können wir feststellen, daß jeder von uns den Wunsch
hat, für immer von dem zu wissen, was im Weltall vor sich geht. Welche Phase aber oder
was kann diesen Wunsch befriedigen? Nichts von allem, was wir in unserem Umfeld sehen,
weder materiell noch psychologisch. Ist das nicht der Beweis, daß es ein Leben nach dem
Tode gibt, wo unser Wunsch nach Ewigkeit Erfüllung finden wird? Rumi macht das an einem
wunderschönen Gleichnis klar: "Nur ein Elefant träumt von Indien, wenn er
schläft. Kein Esel träumt von Indien, weil dem Esel Indien nie gefehlt hat."22
Tatsächlich sind wir wie jener Elefant, und die Ewigkeit ist unser Indien. Der Elefant
gehört nach Indien, und darum träumt er davon. Entsprechend, weil wir davon träumen,
gehören wir in die Ewigkeit.
Diese Hoffnungen und spirituellen Wünsche sind das, was die Gnostiker
die 'Non-Homogenität', also die Fremdheit und 'Unbehaustheit'. das 'Heimweh' des Menschen
in diesem irdischen Leben, genannt haben.
Aristoteles wurde gefragt, was besser sei, Leben oder Tod. Er
antwortete: "In meinen Augen sind sie gleich." Der Mann fragte noch
einmal: "Möchtest du jetzt sterben?" Aristoteles gab zur Antwort: "Ich
habe gesagt, sie sind gleich, ich habe nicht gesagt, der Tod wäre besser. Denn er ist ein
Licht, das du von einem Haus in das andere bringst."
Unser Zustand nach dem Tode ist nichts anderes als die Umsetzung
unserer Handlungen in objektiver und konkreter Form. Um es noch deutlicher zu sagen: Wir
"sehen" dann unsere Handlungen. Rumi kann uns wieder helfen: "Der Tod,
lieber Freund, ist für jeden wie er selbst. Für einen Freund ist er ein Freund und für
einen Feind ein Feind. O du, der vor dem Tode Angst hat, während du davonläufst, mache
dir klar, daß du selber die Ursache dieser Angst bist. Es ist dein eigenes häßliches
Antlitz, nicht das des Todes. Deine Seele ist wie ein Baum, und seine Blätter, das ist
der Tod. Wenn du der Dornen überdrüssig bist, mußt du sie veredeln; und wenn du in
feinster Seide gehst, so hast du selbst sie gesponnen."23
"Sprich: Siehe, der Tod vor dem ihr flieht, siehe, er wird euch
einholen. Alsdann müßt Ihr zurück zu Dem, der das Verborgene und Sichtbare kennt, und
verkünden wird Er euch, was ihr getan." (Heiliger Qur'an 62:8)
"O Allah,
gib uns einen Tod,
daß wir sterben
auf Deinem Pfad." 24
Anmerkungen
Muhammad Taqi Ja'fari, der lebende persische Philosoph, glaubte, daß
diese Sicht zuerst von 'Umar Khayyam vertreten wurde in seinem al-Kawn wa't-taklif
(Existenz und Verantwortung). Auf S. 390 schreibt er: 'Tausend gute Taten unterlassen
für eine böse, das ist selbst das ganz Böse.' d.h., Böses ist notwendig um des
größeren Guten willen.
Freiheit nicht im politischen Sinne, sondern als Fähigkeit, Gutes oder
Schlechtes zu tun. Nur der Mensch hat diese Möglichkeit. Er kann gut oder er kann grausam
sein. Er kann human, also menschenfreundlich sein oder ein Tyrann und Totschläger.
Leibnitz, der Philosoph des 17. Jahrh., gehört zu denen, die glauben, daß die Freiheit
des Menschen die Ursache des Bösen ist. Er schreibt: 'Der freie Wille ist ein hohes Gut.
Aber es war logischerweise für Gott unmöglich, (dem Menschen) freien Willen zu geben und
gleichzeitig zu bestimmen, daß es keine Sünde geben solle. Daher entschied Gott, den
Menschen frei zu schaffen, obwohl Er vorhersah, daß Adam den Apfel essen würde, und
obwohl die Sünde unweigerlich Strafe nach sich zog. '(Bertrand Russel, Geschichte der
abendländischen Philosophie, London, George Allen & Unwin Ltd., 1974, S. 570)
Nach Avicenna (Ibn Sina), dem persischen, Physiker und Wissenschaftler
des Mittelalters, hatte 'der Prophet Muhammad zwei Wunder: Den Qur'an und Imam Ali
(a.s.)," denn Imam Ali (a.s.) wurde ausschließlich durch den Propheten erzogen und
unterwiesen.
4.Aus: George Jordagh, Imam 'Ali, The voice of Human Justice
Stimme der menschlichen Gerechtigkeit.
5. Aus: Imam 'Ali ibn Abi Talib, Nahj-ul-balaghah
Es ist so: Wenn wir an Gottes Gerechtigkeit glauben, werden wir
versuchen, dieselbe Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu sehen. Weil dann jede
Ungerechtigkeit gegen Gottes Willen verstößt und gegen die Harmonie des Universums. Und
darum war der Glaube an Gottes Gerechtigkeit immer eine Bedrohung für die herrschenden
Mächte.
7. Muhammad Taqi Ja'fari in einem Interview
Auszug aus dem Buch Adl-i-ilahi (göttliche Gerechtigkeit) von Schahid
Ayatollah Murtada Mutahhari
Dies ist kein Widerspruch zur Entwicklungstheorie, wo sie
wissenschaftlich begründet ist, da immer noch die Frage bleibt, warum das eine sich zu
diesem und das andere in etwas anderes entwickelt.
10. Der 5. Imam nach dem Propheten (s.a.s.)
Aus der Überlieferungssammlung von Mejlisi, Bihar al-anwar, New
Edition (Neuauflage) Bd 67 S. 213
Der 6. Imam od. 6.Träger der Weisheit nach dem Propheten (s.a.s.)
Aus der Überlieferungssammlung Majlisi, Bihar al-anwar, Bd. 67
S. 208
Erzählte Imam Ja'far as-Sadiq (a.s.) vom Propheten Muhammad
(s.a.s.)
gesammelt in Bihar al-anwar, Bd 67, S. 200
15. Großer persischer Dichter des 13. Jahrh.
16. Sein voller Name ist: Jalal ad-Din Muhammad Balkhi Mowlawi
17. Mathnawi, Buch I
18. Gesamtwerk
19. Mathnawi, Buch II
20. Persischer Philosoph des 18. Jahrh.
21. Asfar, Bd 3
22. Mathnawi, Buch IV
23. Mathnawi, Buch III
Gebet vom Propheten (s.a.s.), vom Imam Ja'far as-Sadiq (a.s.)
überliefert
Die Notwendigkeit des Notwendigen und die Möglichkeit des Möglichen
sind nichts anderes als ihr wahres Wesen. D.h., etwas, dessen Existenz möglich ist, ist
notwendigerweise möglich; und etwas dessen Existenz notwendig ist, ist zwangsweise
notwendig! (Anm. d. Hrsg.)
|