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Zweites und Drittes Kapitel

 

UNANFECHTBARES WISSEN

 

Gründliches, eindeutiges, unanfechtbares Wissen

Der Koran betont immer wieder, dass der Mensch im Leben einzig und allein nur den Weg oder das Ziel verfolgen sollte, über welches ihm klare und unbestrittene Kenntnisse vorliegen.

In Sure Bani Israel (Sure 17), Verse 36 heißt es zum Beispiel:

"Und verfolge nicht das, wovon du keine Kenntnis hast. Wahrlich, das Ohr und das Auge und das Herz - sie alle sollen zur Rechenschaft gezogen werden."

Erst starke, sichere und klare Beweise, Beweise, die die Realität aufhellen, liefern verlässliches Wissen an die Hand. Dieser Zusammenhang wird in Sure Junus und Sure Baghareh angesprochen:

"... Ihr habt keinen sicheren Beweis für Eure Behauptun­gen. Wollt Ihr denn Gott etwas anhängen, wovon Ihr keine genaue Kenntnis habt? ..." (Sure Junus (Sure 10), Verse 68)

"... Das sind nur ihre (persönlichen) Wunschvorstellun­gen. Sag: Wenn Ihr die Wahrheit sagt, so bringt klare Beweise vor..." (Sure Baghareh (Sure 2), Verse 111)

Wie auch aus folgender Sure hervorgeht, führen reine Vermutungen und Vorstellungen niemals zu unanfechtbarem Wissen.

"... Die meisten von ihnen gehen nur ihren eigenen Vermutungen nach. Jedoch wird an Hand von Vermutungen für niemanden die Wahrheit entbehrlich." (Sure Junus (Sure 10), Verse36).

Aus der Sicht des Korans gesehen sind bloße Annahmen grundsätzlich wertlos. Wie an zahlreichen Stellen nachzule­sen ist, handeln Leute, die sich von ihren Vermutungen leiten lassen, unvernünftig und blindlings.

Faktoren, die den Weg zu klarer wissenschaftlicher Erkenntnis verbauen.

Der Koran nennt mehrere Faktoren, die den Menschen in seinen vorhandenen vagen Vermutungen und Ansichten stärken und verursachen, dass er sich ihrer als Ersatz für genaue und klare Kenntnisse bedient.

1. Wenn der Mensch sich von seinen Begierden und Leiden­schaften leiten lässt

Begierden und Leidenschaft, Selbstsucht und persönli­che Wünsche halten den menschlichen Verstand davon ab, richtig wahrzunehmen und objektiv zu beurteilen:

"Wer ist mehr im Irrtum, als wer ohne Rechtleitung von Gott seinen persönlichen Begierden folgt."

(Sure Qasas (Sure 28), Verse 50)

2. Wenn der Mensch die Sitten und Bräuche der Vorfahren ohne nachzudenken nachahmt

"... Sie sagen, wir fanden, dass unsere Väter und Großväter eine Glaubensrichtung innehatten und sind ihnen auf ihrem Weg gefolgt. So haben wir auch schon vor dir in keine Stadt oder in kein Land einen Warner gesandt, ohne dass diejenigen unter ihnen, die Reichtum horteten und nur an ihre Vergnügungen dachten sich nicht gegen ihn gestellt hät­ten und verlauten ließen: wir fanden, dass unsere Väter eine Glaubensrichtung einhielten, und wir folgten ihrem Vorbild."

(Sure Zochruf (Sure 43),Verse 22 bis 24)

3. Wenn der Mensch sich blindlings oder aus Angst der Macht und dem Einfluss von Älteren, 'großen' Persönlichkeiten oder Herrschern ausliefert

"Sie sagen: wir sind unseren Grossen und unseren Füh­rern gefolgt, (und) sie haben uns in die Irre geführt."

(Sure Ahzab (Sure 33),Verse 67)

Mangelnde Charakterstärke und Unterschätzung des eigenen Ichs im Anblick von Großmächten oder alleine schon im Vergleich mit so genannten 'entwickelten' Ländern und deren Ansichten, Bräuchen und Weltbildern, beraubten Menschen seines eigenen Denkvermögens, denn hat er sich erst einmal von dieser Einstellung hinters Licht führen und verzaubern lassen, so hört er auf, eigene Gedanken und Überlegungen zu entwickeln und scheint nur noch so wahrzu­nehmen, als sehe er mit den Augen der anderen, als höre er mit den Ohren der anderen und denke mit dem Verstand der anderen.

Die wichtigsten Mittel zur Erlangung von Kenntnissen

Als die wesentlichsten Mittel zur Erlangung klaren Wis­sens und zuverlässiger wissenschaftlicher Kenntnisse nennt der Koran drei Faktoren:

Das Gehör, die Augen und das Herz (Verstand)

"Und Gott hat euch aus dem Schoss eurer Mütter her­vorkommen lassen, ohne dass ihr mit Wissen ausgestattet wart. Aber er hat euch Augen, Ohren und Herz mitgegeben, vielleicht würdet ihr für diese Gnaden dankbar sein (und von ihnen Gebrauch machen, um euch aus der Unwissenheit zu retten)."

(Sure Nahl (Sure 16), Verse 78)

In einer weiteren Stelle (Sure 32, Vers 9) heißt es:

"... Gott hat euch erschaffen und euch Gehör, Augen und Herz mitgegeben. Warum zeigt ihr euch so wenig dankbar? ..."

Einen großen Teil unserer Kenntnisse haben wir durch unsere Hörfähigkeit erworben, d.h. vieles verdanken wir vertrauenswürdigen Personen oder sonstigen zuverlässigen Quellen, die wir darüber haben reden hören. Kenntnisse, die nicht wir selbst, sondern andere durch Erfahrung, For­schungsarbeiten oder Überlegung erzielt haben.

Ein weiterer umfassender Teil unseres Denkgutes stammt aus eigenen Beobachtungen, mit anderen Worten, wir wissen etwas, weil wir es mit eigenen Augen gesehen haben.

Vieles lernen wir auch durch Wahrnehmungen dazu, die sich lediglich in unserem Innern abspielen.

Die durch Gehör, Augen und innere Beobachtungen gewonnenen Informationen sind jedoch bei Erreichen des Gehirns zunächst noch sehr oberflächlich, und daher gering­wertig, da sie ja weder ausreichend überprüft, noch genügend bewertet und analysiert wurden. Sie liefern lediglich geistigen Rohstoff, den das Herz (Verstand) mit Hilfe von Überlegung und Nachdenken erst noch verarbeiten und vollenden muss, bevor es zu zuverlässigem und vollwertigem, annehmbarem und anwendbarem Wissen wird.

Nur die Sachgemäße Zuhilfenahme dieser drei dem Menschen mitgegebenen Faktoren- so streicht der Koran heraus- ermöglicht seine geistig-seelische Reifung, und wer sich ihrer nicht richtig bedient, der sinkt bis auf die Stufe eines Vierbeiners herab.

"Sie haben ein Herz mit dem sie nicht verstehen, Augen, mit denen sie nicht sehen und Ohren, mit denen sie nicht hören. Sie sind wie das Vieh, ja, sie sind weit ärger als dieses abgeirrt."

(denn die Tiere erfahren durch ihren Instinkt eine Art Füh­rung, diejenigen aber, die von den ihnen zur Erlangung von Wissen mitgegebenen Werkzeugen keinen Gebrauch machen, um die Wirklichkeit zu erkennen, bleiben verwirrt auf Abwegen zurück.)

(Sure A'raf (Sure 7), Verse 179)

Die bedeutende und umfangreiche Rolle des menschlichen Herzens (Verstandes)

Der Koran verwendet die verschiedensten Erklärungen, um die bedeutende und umfangreiche Rolle des "Herzens" zu benennen, wie zum Beispiel Überlegen, Besinnen, Nachdenken u.a.:

Überlegen heißt denken, bedeutet richtiges Einordnen der inneren und äußeren Wahrnehmungen und sollte die Analyse und Zusammenfassung von Informationen und Gedanken, deren Vergleich miteinander und ihre Beurteilung, und als Endergebnis schließlich die Erfassung allgemeiner Grundsätze und Regeln bezwecken, mit deren Hilfe wir aus Einzelgeschehnissen und- Erfahrungen treffende Rück­schlüsse ziehen können und neue Erkenntnisse und Informati­onen genau an der ihnen zugehörigen Stelle, in unserem Gedankengerüst einzusetzen in der Lage sind.

Besinnliches Nachdenken bedeutet, hinter die Kulissen schauen, bedeutet forschen, um die Wahrheit der Dinge zu erkennen. Besinnung zielt darauf ab, die eigentlichen Zusam­menhänge und Tatbestände zu erkennen. Unsere durch die Sinnesorgane gewonnenen Wahrnehmungen sind nur das äußere und für einen Zeitpunkt oder- abschnitt geltendes Erscheinungsbild von Gegenständen und Ereignissen. Einen direkten Weg zum wahren Innern der Dinge zu finden und das Resultat eines Geschehnisses zu erkennen, das vermögen Sinnesorgane nicht. Sie können uns nicht oder nur unzuläng­lich befähigen, etwas zu erfassen, was weder sichtbar noch ertastbar ist. Geistig jedoch sind wir in der Lage, in das Innere und bis zum wahren Kern der Dinge vorzudringen, wenn wir nur gründlich und tief genug analysieren und nachdenken.

Sachgemäßes Wissen müssen wir uns demnach durch scharfsinnige Überlegung und geistige Analyse, gemischt mit kluger Voraussicht, erschließen, und uns bei diesem Lernprozess von Leichtgläubigkeit, nur halbwegs untermauerten Vermutungen und oberflächlicher und vorschneller Beurtei­lung fernhalten, um zu klaren und unbestrittenen Kenntnis­sen zu gelangen , Kenntnissen, auf die wir vertrauen und nach denen wir uns richten können.

Beobachtung

In zahlreichen Versen fordert der Koran uns zur genauen Beobachtung unserer Umwelt auf. Genaue Beobachtung bedeutet forschend Umsiechschauen, aufmerksam betrachten und gleichzeitig geistig verarbeiten und tief greifend über das Wahrgenommene nachdenken.

Lesen Sie bitte hierzu aufmerksam die folgenden Koranstellen:

"Sag: Schaut doch, was es alles in den Himmeln und auf der Erde gibt"....

(Sure Junus (Sure Nr. 10), Verse 101)

"Schaut euch an, wie es den Lasterhaften letzten Endes erging."

(Sure 7, A'raf)

"Sehen sie denn nicht die Kamele und denken darüber nach, wie sie geschaffen worden sind, den Himmel, wie er emporgehoben wurde, die Berge, wie sie aufgestellt worden sind und die Erde, wie sie ausgebreitet worden ist?"...

(Sure Ghaschija (Sure 88), Verse 17 bis Verse 20)

Wie Sie an den obigen Beispielen sehen können, sind sehr genaue und durchdringende Beobachtungen erforder­lich, um eine Antwort auf die genannten Fragen und die damit verbundenen Probleme zu finden, und diese Beobach­tungen müssen mit tiefsinnigem Nachdenken, ausreichender Überprüfung und genügend Exaktheit einhergehen.

Überlegen, Nachdenken und Beobachten in der soeben beschriebenen Weise soll die Erfassung sämtlicher gegen­ständlicher und nichtgegenständlicher Erscheinungen und Vorfälle im Weltall umschließen, und ist nicht etwa auf nur einen Teil von ihnen beschränkt.

Der Koran legt auch dem Menschen die Empfehlung ans Herz, innerhalb der verschiedensten Problembereiche Über­legungen anzustellen und nachzudenken.

Einer dieser Problembereiche ist die Natur:

"In der Erschaffung von Himmel und Erde und im Aufeinanderfolgen von Tag und Nacht liegen Zeichen für diejenigen, die Verstand haben, Leute, die im Stehen, Sitzen oder Liegen Gottes gedenken und über die Erschaffung von Himmel und Erde nachsinnen."

(Sure Al-Imran (Sure3), Verse 190 bis 191)

Die weiträumige Welt der Schöpfung gibt dem Men­schen immer wieder von neuem Anlass zum Nachdenken und Überlegen, und hunderte von anderen Koranversen heben dies in ähnlicher Weise hervor wie die obige.

Auch im Bereich der Geschichte soll der Mensch sich besinnen:

"Erzähle über ihre Vorfahren und wie es denen erging, damit sie darüber nachdenken."...

(Sure A'raf (Sure 7), Verse 176)

Viele andere Koranverse zu diesem Thema beinhalten die Tatsache, dass einerseits das sich mit den Veränderungen innerhalb vorangegangener Gesellschaften befassende Stu­dium den Weitblick eines Volkes schärft, und andererseits wie lehrreich die Überprüfung der Ursachen sein kann, aufgrund derer manche Völker Wandlungen erfahren haben, andere sich entwickeln konnten und wieder andere zum Niedergang verurteilt waren.

Hinsichtlich des Menschen heißt es im Koran:

"Wir werden sie in der weiten Welt und in ihnen selber unsere Zeichen sehen lassen, damit ihnen klar wird, dass Er die Wahrheit ist."

(Sure Fosselat (Sure 41),Verse 53)

Über die Offenbarung lesen wir:

"Machen sie sich denn keine Gedanken über den Koran? Oder sind ihre Herzen versiegelt?"

(Sure Mohammad (Sure 47), Verse 24)

Eine irreführende Begriffsbildung zur Bezeichnung wissen­schaftlicher Kenntnisse

Die persische Sprache von heute verwendet den Begriff der wissenschaftlichen Kenntnis (schenacht-e-elmi) nur für erfahrungsgemäßes Wissen, und der Ausdruck Wissenschaft (elm) findet nur für Erfahrungswissenschaften Verwendung. Aufgrund dieser Begriffsbildung erfahrt das Wort 'Wissen­schaft' (elm) eine Einschränkung auf einen bestimmten Bereich menschlicher Erkenntnisse.

Außerdem benutzt man in europäischen Sprachen zwei voneinander getrennte Begriffe für menschliches Wissen. Der eine Begriff bezeichnet, wie z.B. das Wort 'knowledge' im Englischen, Wissen im allgemeinen Sinne und umfasst jede Art bewusster Kenntnisse. Ein zweiter und gesonderter Aus­druck wird zur Bezeichnung von Erfahrungswissen verwen­det, so im Englischen das Wort 'Science'. Diese beiden in ihrer Bedeutung verschiedenen Wörter wurden aber mit nur einem Begriff ins Persische übertragen, nämlich dem Wort 'elm', was demnach sowohl Wissen allgemein als auch Wis­senschaft bedeuten kann.

Die Verwendung nur eines Begriffes im Persischen für sowohl Wissen ganz allgemein, als auch Wissen im besonde­ren ebnet den Weg für einen irreführenden Rückschluss, der sich wie folgt aufbaut:

Punkt l: Eine Erkenntnis, die nicht 'elmi' ist, die also nicht auf Wissen beruht, hat keinen Wert und nur eine solche ist akzeptabel, deren Grundlage 'auf Wissen beruhende Kenntnisse' (ma'arefate elmi') bilden. Erst solche Kenntnisse können einer Erkenntnis Zuverlässigkeit verleihen und ihre Richtigkeit belegen.

Punkt 2: 'Ma'arefat-e-elmi' bedeutet aber auch erfahrungsgemäßes Wissen (denn, wie zu Anfang erwähnt, wird das Wort 'elm' für Erfahrungswissenschaft angewendet). Es folgt in Verbindung mit dem, was unter Punkt l gesagt wurde, dass eine Erkenntnis, die nicht durch Erfahrung, sondern auf anderem Wege gewonnen wurde, wertlos, unzu­verlässig und nicht anwendbar sein kann.

Wie Sie sehen, wurde das Wort 'elm' unter Punkt l in seinem Sinne als Wissen allgemein verwendet. An der unter diesem Punkt gemachten Feststellung, nämlich der, dass eine Erkenntnis, die nicht auf Wissen und Kenntnissen beruht, wertlos ist, wird wohl auch niemand zweifeln. Anders aber bei:

Punkt 2: Dort wird der Begriff 'elm' nicht mit seiner wörtli­chen und weiten, sondern mit seiner eingeschränkten, termi­nologischen Bedeutung angewandt, nämlich der Bedeutung 'Erfahrungswissenschaft'. Obiger Fehlschluss hat dann auch einige zu der Ansicht veranlasst, nur erfahrungsgemäßes Wissen sei zuverlässig und von Wert, nicht aber anderes Wissen.

Alsbald haben sie diese eine Schlussfolgerung so weit ausgedehnt, dass sie verlangen, Gott während eines Welt-Raumfluges anzutreffen oder die menschliche Seele mit Hilfe des Chirurgenmessers zu finden, um an ihre Existenz zu glauben. (Nach einem Zitat von Bruceh aus dem französisch­sprachigen Buche 'Psychologie und Metaphysik' von Schaleh Seite 745, Druck Paris 1937).

Ein weiterer Fehlschluss

Wie Sie im vorangegangenen Text nachvollziehen konn­ten, wurde der Ausdruck Wissen und Kenntnis aufgrund einer einzigen irreführenden Begriffsbildung aus seinem wei­ten Bedeutungsbereich herausgerissen und in einen viel klei­neren eingesperrt.

Außerdem zieht der obige Fehlschluss einen nächsten nach sich, denn wie folgt wird weiterargumentiert:

Da nur Erfahrungswissenschaften zuverlässig und von brauchbarem Wert seien, wäre die Wirklichkeit ausschließlich durch Beobachtung und Experimente nachweisbar. Folg­lich sei Unsichtbares, was auch durch Labormethoden oder mathematische Berechnungen nicht erkennbar gemacht wer­den könne, nicht existent. Darauf aufbauend stellte man die folgende Überlegung an:

Realität sei die aufgrund von Erfahrung (also auf Wahr­nehmung und Lernen beruhende Kenntnisse)erhellte Wirk­lichkeit, und bekanntlich seien nur stoffliche Dinge durch Erfahrung erkennbar. Demnach gehörten nichtstoffliche Dinge nicht der Wirklichkeit an, denn man könne sie weder im Labor nachweisen, noch seien sie durch Erfahrung erschließbar.

Immaterielles sei menschliche Einbildung, nicht mehr als Ideen, und gehöre in die Rangordnung von Träumen und Phantastereien. Abschließend wird die Schlussfolgerung getroffen, Realismus wäre eine Philosophie, die nur die Mate­rie als Wirklichkeit anerkenne, während Idealismus eine Lebensanschauung darstelle, deren Anhänger auch von der Existenz des Nichtmateriellen überzeugt wären. Das natürli­che logische Empfinden des Menschen gäbe daher dem Realismus- im Sinne einer philosophischen Lehre, die an die Wirklichkeit anlehnt- entschieden dem Vorrang gegenüber dem Idealismus- hier im Sinne einer zum Teil auf reinen Vorstellungen und Phantasien aufbauenden Weltanschau­ung- und der Materialismus sei aus diesen Gründen einer religiösen Weltanschauung vorzuziehen.

Ehrlich gesagt, verbirgt sich nicht gerade hinter diesen Überlegungen die Neigung zum Phantasieren?

Dem kritischen Betrachter fällt in der vorstehenden Behauptung unschwer der hohe Grad an Unwissenschaftlich­keit und das unzweifelhafte Vorliegen falscher Rückschlüsse und irreführender Definitionen auf. Falls Realismus und Idealismus so zu verstehen wären, wie vorab definiert wurde, nämlich Realismus als Lehre über die Wirklichkeit und Ide­alismus als Hang zum Phantasieren, würden auch wir selbst­verständlich sofort der Meinung zustimmen, Realismus sei dem Idealismus vorzuziehen.

Es stellt sich aber die Frage, was die Realität wirklich umfasst, und wer im Grunde Realist ist.

Die Realität ist eine Summe von Tatsachen, die wirklich existieren.

Diese Tatsachen können materiell sein, sie können aber auch immateriell sein. Wenn etwas existiert, muss es nicht unbedingt materiell sein, ebenso wie etwas, das wissenschaft­lich ist, nicht unabdingbar im Labor beobachtet werden muss. 'Religiöser Realismus' ist daher der sich auf Erkenntnis und Wissenschaft stützende Glaube an die materielle und nichtmaterielle Wirklichkeit und nicht etwa, wie fälschlicher­weise definiert wurde, eine Überzeugung, die auf rein geisti­gen Vermutungen und menschlichen Phantasiegebilden basiert. Wer an einer religiösen Weltanschauung festhält, der sagt von sich, er sei aufgrund von tiefer Überlegung, Scharf­sinn, Wissenschaft und Kenntnis bis zur Wahrheit, sogar bis zur reinen Wahrheit, vorgedrungen und habe sie empfunden.

Er sagt: 'ich habe die Wahrheit empfunden' und nicht 'ich stelle mir die Wahrheit so und so vor'. So sehen die wahren Tatsachen aus. Bedauerlicherweise aber wurden sie verdreht und im Entgegengesetzten Sinne dargestellt.

Realismus — Wirklichkeitsdenken

Aus der Sicht des Islams besteht die Welt aus einer Fülle sehr unterschiedlicher. Aber im Zusammenhang stehender Einzelwahrheiten. Der Teilbereich des Daseins, den wir Natur nennen, ist eine Summe von Erscheinungen, die stän­dig im Begriff sind zu entstehen, sich zu Verändern und zu bewegen, ist somit ein ständiges aus dem Willen des einen und alleinigen Gottes resultierendes Werden. Der Islam möchte daher, dass der Mensch diesen Grundsatz bei seinem Bestre­ben nach Erkenntnis der eigenen und der ihn umgebenden Wirklichkeit im Auge behält, möchte, dass wir jede Erschei­nung in der Natur so begreifen, wie sie wirklich ist, indem wir sie an der richtigen Stelle im Bewegungsablauf und Werde­gang einordnen, die verschiedenen Dimensionen kennen, die sie beinhaltet und wissen, was sie eigentlich von den anderen Erscheinungen unterscheidet, aber auch, in welcher Abhän­gigkeit und Verbindung sie zu diesen steht. Die islamische Lehre stützt sich also gerade auf Wirklichkeitsdenken, sprich Realismus.

Ein entscheidender Punkt ist jedoch zu beachten, und zwar besteht Realismus nicht darin, dass der Mensch sich willenlos der bestehenden Wirklichkeit ausliefert. Vielleicht sind auch Ihnen, liebe Leser, schon einmal verweichlichte Gemüter begegnet, die sich als Ratgeber hervortaten, indem sie verlauten ließen, der Mensch müsse ja wohl Realist sein und der Realität gehorchen. Er müsse stets sich den gegebe­nen Tatsachen beugen und dürfe sich nicht gegen sie auflehnen.

Diese Art von Überbewertung der Realität lehnt der Islam als überspitzt ab, denn nach seiner Ansicht ist eine solche Denkweise weder mit der Würde des Menschen noch mit seiner Berufung und den ihm mitgegebenen, schöpferi­schen Fähigkeiten vereinbar.

Der Mensch im Islam hat nicht das Recht, sich ohne weiteres den Gegebenheiten in seiner natürlichen und sozialen Umwelt zu fügen, schon gar nicht mit dem Vorwand, es handle sich um bestehende Tatsachen und ein vernünftiger Mensch werde nicht gegen solche angehen. Nach islamischer Ansicht wurde der Mensch zur schöp­ferischen Ge-und Umgestaltung seiner Umwelt geschaffen. Er ist dazu berufen, seine ihm auf geistiger und praktischer Ebene innewohnenden kreativen und steigerungsfähigen Kräfte anzuwenden. Auch ist er dazu bestimmt, die notwen­digen Veränderungen in seiner gesellschaftlichen und natürli­chen Umgebung herbeizuführen und Neues von Nutzen zu schaffen. Diese Bemühungen sollen den Menschen einerseits auf ein für ihn und die anderen besseres und menschenwürdi­geres Leben vorbereiten, und ihn andererseits davon abhal­ten, sich jemals sofort in die Gewalt vorhandener Tatsachen zu ergeben. Ein islamischer Mensch sieht die Realität, aber er hält nicht bedenkenlos an ihr fest, sondern orientiert sich in ihr nach seinem Ziel.

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