Murtaea Murahari

Spirituelle Gespräche
 

Inhalt

Vorwort des Herausgebers                                                                  9

1. Die Kriterien der Menschlichkeit                                                     11

2. Die Schule der Menschlichkeit                                                         17

3.  Spirituelle Freiheit                                                                         27

4.  Großartigkeit und Vortrefflichkeit des Geistes                                  39

5.  Gottesdienst und Gebet                                                                   45

6. Reue                                                                                             61

7. Migration und Anstrengung auf dem Weg Allahs                               81

8.  Glaube an das Verborgene                                                              89

 

 

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Murtaea Murahari ■ Spirituelle Gespräche

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Islamisches Echo in Europa • 16. Folge

Murtaea Murahari

Spirituelle Gespräche

Islamisches Zentrum Hamburg e.V.

Deutsche Erstausgabe

Die Deutsche Bibliothek - Cip-Einheitsaufnahme

Muxahari, Murtawa

Spirituelle Gespräche

(Islamisches Echo in Europa; Bd. 16)

Hamburg: Islamisches Zentrum Hamburg, 2001

ISBN 3-925165-12-6

Alle Rechte vorbehalten

©2001 Islamisches Zentrum Hamburg e.V.

Schöne Aussicht 36, D-22085 Hamburg

Tel. (040) 22 12 20/40

Fax (040) 220 43 40

ISBN 3-925165-12-6

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Im Namen Gottes, des Gnädigen, des Barmherzigen

Vorwort des Herausgebers

Die zwei Dimensionen, die der Mensch in sich vereint, nämlich Körper und Geist, wecken in ihm entsprechende materielle und spirituelle Bedürfnisse, die in einem gesunden und ausgewogenen Verhältnis zueinander stehen müssen. Die islamische Ethik (al-avlaq) zeigt dem Menschen die Richtung und den Weg zur Wahrheit und zu seiner eigenen Glückseligkeit auf. Der Mensch kann diesen Weg der Selbstvervollkommnung beschreiten und die Tugenden zu seinem eigenen und dem Wohl seiner Mitmenschen vervollkommnen, um auf diese Weise letztlich seinen inneren Frieden zu finden.

In der heutigen materialistisch geprägten Welt wird den Menschen zunehmend bewusst, dass sie ihre spirituelle Dimensionen zugunsten ihres materiellen Aspektes vernachlässigt haben, und sie suchen abseits von allen vergänglichen und wertlosen materiellen Vergnügen nach dem wahren Sinn und Zweck ihres Seins. Die weitgehende Verbannung der Spiritualität aus dem menschlichen Alltag und die Ersetzung des Geistes der Religion durch den Geist des Kapitalismus haben dazu geführt, dass sich der Mensch pimär mit der Befriedigung seiner materiellen Bedürfnisse befasst und die Frage nach den Werten und Kriterien, die sein wahres „Menschsein" ausmachen und ihn als Menschen auszeichnen, in den Hintergrund getreten ist.

Mit den nachfolgenden Essays, die aus einer Reihe von Vorträgen entstanden sind, hat M. Motahari den Versuch unternommen, die Menschen auf die vergessenen Realitäten aufmerksam zu machen und ihre spirituellen Ansätze und Neigungen zu fördern.

Islamisches Zentrum Hamburg e.V.

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1. Die Kriterien der Menschlichkeit

Wenn wir die Frage nach den Kriterien der Menschlichkeit vom biologischen Gesichtspunkt her erörtern würden, wäre es einfach, denn wir würden uns mit dem menschlichen Körper und der Stellung des Menschen in der Tierwelt befassen, und in diesem Falle gäbe es keinen Unterschied zwischen Individuen. Nach den Maßstäben der Anatomie, Medizin und sogar in gewissem Maße der Psychologie gibt es keinen größeren Unterschied zwischen zwei oder mehr Individuen.

Ist aber die Menschlichkeit auf den Körper beschränkt? Ist menschliche Vollkommenheit und Mobilität auf den physischen Aspekt des Menschen begrenzt? In den humanistischen Wissenschaften ist vom vollkommenen und unvollkommenen Menschen die Rede, von der niedrigen und der höheren Art. Welche Art von Mensch ist aufgrund ihrer Vollkommenheit ethisch und gesellschaftlich des Respekts würdig oder verdient aufgrund ihrer Unvollkommenheit Verachtung? Das ist ein Thema, das nicht nur in den menschlichen Wissensbereichen die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat, sondern auch in verschiedenen Religionen. Der Qur'an beispielsweise spricht von Menschen, die höher stehen als Engel und der Ehrerbietung letzterer würdig sind. Er erwähnt auch Menschen, die niedriger stehen als Tiere.

Was sind die Kriterien, die die Unterschiede zwischen Menschen festlegen? Diese Frage ist nicht nur mit der Religion verbunden. Auch materialistische Philosophen, die nicht an Gott glauben und keine Religion haben, erörtern die Fragen des Menschen, der Menschlichkeit und höherer und niedrigerer Wesen.

Was sind diesen Philosophen zufolge die Kriterien? Können wir sagen, dass Menschen genetisch gleich sind, sich jedoch im Wissen unterscheiden, d. h. in etwas, das erworben, nicht ererbt ist, so dass eine Person mit mehr Wissen höher steht als jemand mit weniger Wissen? Bezieht sich dies auf akademisches Wissen, das der Ebene und dem Stadium der Studien entsprechend Überlegenheit verleiht? Respektieren wir Menschen nur im Maße ihrer Gelehrsamkeit? Wird Abu Darr geehrt, weil er gelehrter war als seine Zeitgenossen? Ist Mu7awiya tadelnswert und abzulehnen, weil sein Wissen geringer war? Ich glaube nicht, dass Gelehrsamkeit ein Kriterium für Menschlichkeit ist. Wenn dies der Fall wäre, müssten wir sagen, dass Einstein am meisten mit den Qualitäten der Menschlichkeit ausgestattet war, denn er war der gelehrteste Mensch seiner Zeit. Einer anderen Ansicht gemäß genügt Wissen nicht, obwohl es ein Erfordernis der Menschlichkeit ist

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und die Bedeutung des Bewusstseins vom Selbst, der Gesellschaft und der Welt nicht zu leugnen ist. Dieser Sichtweise zufolge ist Menschlichkeit an Charakter und Veranlagung zu messen. Eine Person mag sehr gelehrt sein, wenn sie jedoch einen schlechten Charakter hat, wäre sie dann als wirklicher Mensch anzusehen?

Ein Tier verhält sich seinen Instinkten gemäß und hat keinen Willen, der seine Instinkte beherrscht. Wenn wir einen Hund als ein treues Tier bezeichnen, dann ist seine Treue instinktiv. Eine Ameise ist instinktiv klug. Es gibt auf der Welt auch Menschen, die Anlagen haben, die denen der Tiere ähneln. Sie besitzen ihre natürlichen Instinkte, haben aber nichts getan, sie zu verfeinern und sind dazu verurteilt, nur ihrer Natur zu folgen.

Das Bewusstsein eines Tieres ist auf seine eigene Zeit und seinen eigenen Ort beschränkt, während es dem Menschen sein Bewusstsein erlaubt, die Vergangenheit zu kennen und eine Zukunftsvorstellung zu haben sowie die Grenzen des eigenen Lebensbereichs und sogar des eigenen Planeten zu überschreiten. Die Frage nach dem Charakter ist jedoch eine ganz andere Angelegenheit. Wissen ist mit dem verbunden, was gelehrt wird, während der Charakter mit Übung und der Ausbildung von Gewohnheiten verbunden ist.

Ich glaube nicht, dass Wissen als Kriterium der Menschlichkeit annehmbar ist, und ich werde später erläutern, welche Art von Menschen dies vertreten. Die zweite Ansicht, d. h. Charakter als Kriterium für Menschlichkeit, hat mehr Anhänger. Wir können jedoch fragen: Welche Art von Charaktereigenschaften und Anlagen? Eine der Antworten auf diese Frage lautet, dass Liebe das erwünschte Kriterium ist, Liebe, die die Mutter anderer schöner Anlagen ist. Wenn man also seinen Charakter auf Menschenliebe aufbaut, besitzt man wirkliche Menschlichkeit. Eine solche Person ist an anderen ebenso interessiert wie an sich selbst wenn nicht sogar mehr.

In der Religion bezeichnet man dies als Selbstaufopferung. In einem Buch gibt es die Aussage, dass in allen Religionen die Anweisung vorhanden ist, für andere das zu lieben, was man für sich selbst liebt, und für sie das zu verabscheuen, was man für sich selbst verabscheut. Dies wurde in unseren Überlieferungen festgestellt. Dies ist die Logik der Liebe. Wie wir wissen, wird in den hinduistischen Schulen und im Christentum die Nächstenliebe sehr betont. Sie sind jedoch so weit gegangen, dass sie alles andere aus den Augen verloren haben und darauf bestehen, dass Nächstenliebe unter allen Umständen die Handlungsweise sein soll. Auf diese Weise ist die Liebe in diesen beiden Weltanschauungen eine Art Betäubung, und die Angemessen-

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heit der Nächstenliebe als Kriterium für Menschlichkeit muss diskutiert werden.

Wenn wir allerdings die Liebe zu anderen Menschen als Kriterium akzeptieren, ist das Problem leichter lösbar, als wenn wir Wissen als Kriterium akzeptieren. Hinsichtlich unserer Vorliebe für Abu Darr oder Mu3awiya sind wir nämlich in einer besseren Ausgangslage, sie auf der Grundlage der Liebe zu beurteilen. Mu 3awiya war ein eigennütziger und ehrgeiziger Mann, der andere gewaltsam ausnutzte. Abu Darr war das Gegenteil, und obgleich er alle Möglichkeiten hatte und Mu 3awiya sogar bereit war, ihm viele Privilegien einzuräumen, war er doch besorgt um das Schicksal anderer, besonders derjenigen, die von Mu 3awiya unterdrückt wurden. Deswegen erhob er sich gegen diesen boshaften Mann und verbrachte seine letzten Jahre im Exil, wo er starb. In diesem Sinne bezeichnen wir Abu Darr als menschlich, weil er andere liebte, und wir sehen Mu 3awiya als unmenschlich an, weil er nur an sich selbst interessiert war.

Oder warum meinen wir, dass Hawrat 3Ali (a.s.) ein vollkommener Mensch war? Weil er den Schmerz der Gesellschaft spürte und sein „Ich" zum „Wir" geworden war. Seine Persönlichkeit zog alle anderen an. Er war kein Individuum, das von anderen getrennt war. Er war ein Teil oder Organ eines ganzen Körpers. Er selbst sagte, dass sich Schmerz in einem Teil der Gesellschaft wie in einem Körper auch in den anderen Teilen bemerkbar macht. Dies hatte 3Ali erklärt, lange bevor die humanistische Philosophie des 20. Jahrhunderts es als Ideal in Anspruch nahm.

Als er erfuhr, dass ein von ihm ernannter Gouverneur einem Festessen beigewohnt hatte, schrieb er ihm einen Protestbrief, der in der NahJ-ul-Balaga wiedergegeben ist. Es wird nicht erwähnt, um was für eine Art Festessen es sich handelte, ob dort getrunken, getanzt oder gespielt wurde. Der Gouverneur war von Hawrat 3Ali für schuldig befunden worden, weil er an einem aristokratischen Festessen teilgenommen hatte, dem keine armen Leute beiwohnten.

Er schreibt: „Ich hätte nie gedacht, dass einer meiner Gouverneure und Vertreter ein solches Fest der Adligen besuchen würde." Dann beschreibt er seine eigene Lebensweise und sagt, dass er den Schmerz anderer mehr als seinen eigenen spüre und ihr Schmerz ihn daran hindere, seinen eigenen wahrzunehmen. Aus seinen Worten geht hervor, dass er wirklich gelehrt und weise war. Dennoch liegt der Grund für unsere tiefe Verehrung für ihn nicht in seinem umfassenden Wissen, sondern darin, dass er menschlich war. Er war sich des Schicksals anderer sehr bewusst.

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Eine weitere Denkschule betrachtet Entschlossenheit und Willenskraft als Kriterium für die Menschlichkeit. Sie behauptet, dass eine Person, wenn sie sich selbst, ihre Instinkte, Nerven und Leidenschaften durch ihre Willenskraft und Vernunft beherrschen kann und sich nicht von deren Neigungen und Wünschen beherrschen lässt, wirklich menschlich ist.

Es gibt einen Unterschied zwischen Wunsch und Willen. Der Wunsch ist eine Anziehung durch eine äußere Kraft, eine Beziehung zwischen dem Menschen und äußeren Objekten, so wie z. B. ein Hungriger durch Nahrungsmittel angezogen wird. Selbst Schlaf ist eine Anziehung, ebenso der Wunsch nach Rang und Stellung. Entschlossenheit ist jedoch etwas Inneres, das aus den Zwängen der Wünsche befreit. Sie stellt die Wünsche dem Willen zur Verfügung, der sie nach seinem Ermessen benutzt. Die meisten Ethiker unserer Vergangenheit betonten Entschlossenheit als Kriterium für die Menschlichkeit. Menschen können im Gegensatz zu Tieren, die vom Instinkt geleitet werden, beschließen, gegen ihre eigenen Neigungen zu handeln. Demnach ist eine entschlossene Person menschlicher als eine, die das Selbst nicht beherrschen kann.

Ein weiteres Kriterium für Menschlichkeit ist Freiheit. Was bedeutet dies? Es bedeutet, dass man in dem Maße menschlich ist, in dem man keine Gewalt erträgt, sich nicht von einer Macht gefangen nehmen lässt und frei wählen kann. In modernen Denkschulen wird Freiheit als ein Kriterium für Menschlichkeit sehr betont. Ist diese Sichtweise richtig oder nicht? Sie ist sowohl richtig als auch falsch. Als Erfordernis für Menschlichkeit ist sie richtig, aber als einziges Kriterium für Menschlichkeit ist sie falsch. Der Islam hat Selbstkontrolle sehr betont. In diesem Zusammenhang möchte ich hier eine Geschichte wiedergeben. Es wird berichtet, dass der Prophet (s.a.s.) einmal an einer Stelle in Medina vorbeikam, wo ein paar junge Männer ihre Kräfte erprobten, indem sie einen schweren Stein hoben. Als sie den Propheten (s.a.s.) erblickten, baten sie ihn, als Schiedsrichter zu fungieren. Der Prophet (s.a.s.) war einverstanden, und am Ende des Wettkampfes sagte er: „Wisst ihr, wer der Stärkste ist? Es ist derjenige, der seinen Zorn kontrolliert und sich davon nicht überwältigen lässt. Er darf seinen Zorn nicht auf eine Weise einsetzen, die Gottes Wohlgefallen widerspricht und soll in der Lage sein, seine eigenen Wünsche zu beherrschen." An jenem Tag verwandelte der Prophet (s.a.s.) einen physischen Wettkampf in einen spirituellen. Er meinte damit, dass physische Kraft zwar Mannhaftigkeit zeigt, aber nicht das einzige Anzeichen dafür ist. Wirkliche Mannhaftigkeit ist die Kraft des Willens. Wir nennen Hawrat 7Ali den „Löwen Gottes", denn er war auf zweier-

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lei Weise mannhafter als andere: äußerlich in der Gesellschaft und auf dem Schlachtfeld, wo er seine stärksten Gegner überwinden konnte, und, wichtiger als dies, innerlich in dem Sinne, dass er sich selbst und alle seine Wünsche und Regungen vollkommen unter Kontrolle hatte.

jalaluddin Rumi erzählt in seinem Matnawi eine Geschichte von 3Ali als einem jungen Mann von 24 oder 25 Jahren, in der er ein schönes Bild seiner Mannhaftigkeit wiedergibt. In einem Kampf hatte er seinen Gegner niedergeworfen und saß auf seiner Brust, bereit, ihn zu töten. Da spuckte ihm der Mann ins Gesicht. Verärgert ließ Hawrat 3Ali den Mann los und ging eine Weile herum. Darauf fragte der Mann, warum er ihn losgelassen habe. Er antwortete: „Wenn ich dich in jenem Augenblick getötet hätte, wäre es im Zorn geschehen, nicht als Pflichterfüllung meinem Ziel gegenüber und um Gottes Willen." Dies ist ein wunderbares Beispiel der Selbstkontrolle.

Hawrat 7Ali sagt in seinem Testament zu seinem Sohn, Imam Hasan (a.s.): „Betrachte dich selbst und dein Leben als über jede niedrige Tat erhaben. Für das, was du aus deinem Leben für deine Begierden zahlst, bekommst du nichts zurück. Mache dich nicht selbst zum Sklaven anderer, denn Gott hat dich frei erschaffen." Die Frage der Entscheidungsfreiheit wird auch von der Schule des Existentialismus als Kriterium für Menschlichkeit akzeptiert.

Ein weiteres Kriterium für die Menschlichkeit ist die Frage nach Pflichtgefühl und Verantwortlichkeit, wie sie seit Kant gestellt und in unserer eigenen Zeit betont wird. Dies bedeutet, sich für die Gesellschaft, sich selbst und die Familie verantwortlich zu fühlen. Wie aber soll man dieses Gefühl erlangen, und was ist seine Grundlage? Wird es im Gewissen geschaffen?

Eine weitere Denkschule, Platon eingeschlossen, sieht Schönheit als Kriterium für die Menschlichkeit an. Alle Schulen akzeptieren und befürworten Gerechtigkeit. Eine Schule befürwortet Gerechtigkeit von einem ethischen Gesichtspunkt her; eine andere befürwortet sie, weil sie der Ansicht ist, dass es eine Beziehung zwischen Gerechtigkeit und Freiheit gibt, während Platon meint, Gerechtigkeit sei sowohl im Individuum als auch in der Gesellschaft gut, weil sie zu Ausgewogenheit und Schönheit führt. Seine Vorstellung von Schönheit ist allerdings offensichtlich spirituelle Schönheit.

Bei einer anderen Gelegenheit werden wir die Ansichten dieser Schulen abwägen und eine Übersicht über die Ansichten des Islam zu diesen Fragen geben.

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2. Die Schule der Menschlichkeit

Das Thema dieses Diskurses ist die „Schule der Menschlichkeit". Der Mensch, der das einzige uns bekannte nachforschende Wesen in der Welt ist, war immer Untersuchungen und Diskussionen unterworfen. Das Wort „Menschlichkeit" war immer mit einem Gefühl von Erhabenheit und Heiligkeit verbunden, als von verschiedenen Gesichtspunkten aus den Tieren überlegen, wie Wissen, Gerechtigkeit, Freiheit, Gewissen usw. Obwohl viele geheiligte Objekte der Menschheit Zweifel und sogar Ablehnung ausgesetzt waren, ist anscheinend noch keine Denkschule so weit gegangen, die besondere Würde des Menschen und seine Überlegenheit über andere Geschöpfe zu leugnen.

Diese Tatsache kam auf elegante Weise in den Gedichten von Rumi und Sa 3di und anderen unserer Dichter zum Ausdruck. Um dieses Thema geht es auch im größten Teil der Weltliteratur, sowohl der religiösen als auch der nichtreligiösen, in der die Frage der Menschlichkeit und ihrer Verherrlichung geschildert wird. Auch in der islamischen Literatur, sowohl der persischen als auch der arabischen, finden wir viele solche Feststellungen. In den letzten beiden Jahrhunderten ist die Menschheit mit dem großen Fortschritt der Wissenschaft plötzlich von diesem Podest der Heiligkeit, auf dem sie immer stand, herabgefallen. Sie fiel hörbar, denn je erhöhter etwas ist, desto größer ist der Schaden, der durch den Fall verursacht wird. In der Vergangenheit war die Menschheit, wie Gedichte von Hafic und anderen Dichtern bezeugen, zum Rang von Halbgottheiten emporgehoben worden. Die erste Entdeckung der Menschheit, die ihre Ideen revolutionierte, war die Form des Universums. Zuvor glaubte man, die Erde sei das Zentrum des Universums, um das sich alle Planeten und Sterne drehten. Der wissenschaftlichen Forschung gelang der Nachweis, dass die Erde ein kleiner Planet ist, der sich um die Sonne dreht, und dass das Sonnensystem nur ein unbedeutender Teil des Universums ist.

Damit wurde die Position der Menschheit als Zentrum aller Möglichkeiten und Ziel der Schöpfung Zweifeln und Skepsis ausgesetzt, und niemand wagte mehr, für sie eine erhabene Stellung zu beanspruchen. Dann kam ein zweiter schwerer Schlag, nämlich die Idee, der Mensch sei kein göttliches Geschöpf mehr, und die Vorstellung vom Menschen als Gottes Statthalter auf Erden wurde aufgegeben. Biologische Forschung in Sachen Evolution und Ursprung der Arten zeigte gleich die Verwandtschaft der Menschen mit eben jenen Tieren, die Menschen verachtet und gering geschätzt hatten. Sie

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zeigte ihnen, dass sie sich aus einem Affen oder dergleichen entwickelt hatten, und somit verloren sie ihren göttlichen Ursprung. Ein weiterer schwerer Schlag gegen das scheinbar hervorragende Spektrum von Handlungsweisen der Menschheit, dass sie nämlich so handeln konnte, dass daraus nur Güte und Wohltätigkeit ersichtlich werden, mit dem alleinigen Beweggrund der Gottesliebe und ohne alle animalischen Aspekte, war die neue These, dass der Anspruch der Menschheit auf alle Heiligkeit falsch sei und alle Handlungen, die sie als Liebe zu Wissen, Kunst, Schönheit, Moral und Gewissen, Gebet und Gottesdienst und allem Übernatürlichen bezeichnet hatte, denen ähnlich seien, die auch bei Tieren zu finden sind, jedoch in komplexeren Formen und Mechanismen. Es wurde gesagt, der Bauch sei Quelle und Ursache aller Aktivitäten. Einige gingen so weit, zu sagen, der Bauch sei auch die Grundlage des Denkens und Fühlens. Es gab wieder andere, die diese Position als zu hoch ansahen und behaupteten, der Mensch stünde noch tiefer. Schließlich kam man zu der Schlussfolgerung, dass dieses Wesen, das früher beansprucht hatte, göttlichen Ursprungs und entsprechend ausgezeichnet zu sein, einer sorgfältigen Untersuchung unterzogen werden müsse, um seine wahre Natur zu entdecken. Eine weitere Theorie wurde entwickelt, wonach es keinen Unterschied zwischen Menschen, Pflanzen und sogar unbelebten Dingen gibt. Es gibt natürlich einen Unterschied in Aufbau und Form, aber nicht in der Substanz, aus der sie alle gemacht sind. Es wurde festgestellt, dass Geist und göttlicher Atem nicht existieren, weil das menschliche Wesen eine Maschine ist, die lediglich komplizierter ist als andere Maschinen wie Autos, Flugzeuge und Satelliten, d. h. nur ein mechanisches Geschöpf.

Dies war ein großer Schlag für die Menschheit, und dennoch wurden menschliche Werte nicht völlig verdammt, außer in solchen Denkschulen, wo Ideen wie Frieden, Freiheit, Spiritualität, Gerechtigkeit und Barmherzigkeit als Scherz betrachtet wurden. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hat die Menschlichkeit jedoch in philosophischen Schulen wie den humanistischen und anthroposophischen Schulen erneut Aufmerksamkeit gewonnen. In der Vergangenheit war der Mensch nur ein Zeichen der Spiritualität, und der Qur'an spricht vom Menschen als dem würdigsten Wesen, durch das Gott erkannt werden kann.

Jetzt versucht der Mensch, seine frühere Würde und Heiligkeit wiederzugewinnen, aber ohne die Übernahme früherer Kriterien und ohne Rücksicht auf seinen göttlichen oder nichtgöttlichen Aspekt oder die im Qur'an aufgeführten Punkte, dass alles auf Erden für ihn geschaffen ist und Gott ihm von

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seinem Geist eingehaucht hat, um ihn zu einer Manifestation seiner selbst zu machen.1

Von den oben erwähnten Angelegenheiten ist keine Rede mehr, nicht einmal von einer Erörterung innerer menschlicher Beweggründe, sondern lediglich von einem Glauben an die Heiligkeit der Menschheit und ihrer Intelligenz. Jetzt stellen wir fest, dass alle Denkschulen und selbst die Menschenrechtserklärung ihre Ansprüche mit „Respekt vor der angeborenen Menschenwürde" einleiten. Sie sagen dies, um ihre Bildung auf dieser Grundlage aufzubauen, und obwohl jedes Individuum in der Lage ist, die Rechte anderer zu verletzen, soll dieser Respekt vor der Würde und Heiligkeit der Menschheit solche Verletzungen eingrenzen. Die meisten derjenigen, die der humanistischen Philosophie folgen, haben andere Kriterien als in der Vergangenheit. Die Schwierigkeit liegt allerdings in eben diesem Widerspruch im Leben, Denken und in der Logik der heutigen Menschheit, einer Logik, der die Grundlage fehlt. Ich glaube nicht, dass es in der Welt Gelehrte gibt, die eine humanitäre Lebenseinstellung als universalen Frieden interpretieren würden. Es gibt natürlich gewöhnliche Menschen, die glauben, alle Menschen in der Welt seien gleich und gleichwertig. Dies stimmt jedoch nicht. Einer ist gelehrt, ein anderer unwissend; einer ist tugendhaft, ein anderer lasterhaft; einer ist tyrannisch, ein anderer unterdrückt; einer ist wohltätig, ein anderer boshaft. Sollen wir sie ungeachtet ihres Wissens, ihres Glaubens, ihrer Keuschheit und ihrer Wohltätigkeit von einem menschlichen Standpunkt aus alle als gleich ansehen? Wenn wir dies sagen, verraten wir die Menschlichkeit. Ich möchte ein Beispiel anführen. Sowohl A als auch B sind Menschen, die biologisch ähnlich sind. Wenn man einen von beiden nicht mag, hat das nichts mit seiner Blutgruppe zu tun. Wenn man jedoch Humanist ist, kann man den beiden gegenüber nicht indifferent sein und behaupten, sie seien gleich menschlich, denn dann müsste man beide gleichermaßen mögen oder nicht mögen. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn der Hauptunterschied zwischen Menschen und Tieren liegt darin, dass der Mensch über mehr Potential verfügt als Tiere und weniger tatsächliche Gegebenheiten. Was bedeutet das? Ein Pferd besitzt bei seiner Geburt alle Besonderheiten, die ein Pferd haben sollte, und wenn es weniger hat als dies, kann es durch Übung erworben werden. Ein Mensch hat jedoch bei der Geburt nur ein Potential. Es ist nicht bekannt, was aus ihm in Zukunft wird. Die Gestalt ist

1 Vgl. Sure Fussilat, Vers 53; Sure al-Wariyat, Verse 20 und 21; Sure al-Baqara, Vers 29; Sure al-HiJr, Vers 9.

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menschlich, aber diese Person kann in Wirklichkeit ein Wolf oder ein Schaf oder ein Mensch werden.

Im Hinblick auf den Irrtum der Menschen, die die Menschen in allem als gleich ansehen, sagt der große islamische Philosoph Mulla Sadra, dass es so viele Arten von Individuen gibt wie Individuen vorhanden sind. Er betrachtet den Menschen natürlich philosophisch, nicht biologisch. Ein Biologe widmet seine Aufmerksamkeit den menschlichen Organen und Körperteilen, während sich ein Philosoph auf die Eigenschaften des Menschen konzentriert und somit nicht glauben kann, dass alle Menschen von derselben Art sind. Aus diesem Grunde sind menschliche Werte ein Potential. Einige erringen die Höhen der Menschlichkeit, während anderen dies nicht gelingt. Hawrat 3Ali (a.s.) sagt dazu: „Die Gestalt ist menschlich, aber das Gemüt kann eine Bestie sein."

Nicht bei allen Individuen entspricht das Innere dem Äußeren. Wie zuvor erwähnt kehrt die Welt weitgehend wieder zur Schule der Menschlichkeit zurück, d. h. Philosophien der „Menschlichkeit" sind in Erscheinung getreten; und die eigenartigste von ihnen allen ist der Glaube an die Menschlichkeit, den Auguste Comte in der Mitte des 19. Jahrhunderts begründete.

Dieser Mensch schwankte zwischen seinem Intellekt und Geist einerseits und seinem Herzen und Gewissen andererseits und kam zu der Schlussfolgerung, dass der Mensch einen Glauben braucht, dessen Fehlen zu gesellschaftlichen Entartungen aller Art führt. Seiner Ansicht nach genügt der modernen Menschheit die Religion der Vergangenheit (der Katholizismus) nicht. Er beschreibt drei Stadien der Religion: das Stadium des göttlichen Übernatürlichen, das Stadium der philosophischen Argumentation und das positive wissenschaftliche Stadium. Er sagt, der Katholizismus gehöre dem auf das übernatürliche Denken des Menschen bezogenen Stadium an, und dies sei für den Menschen des wissenschaftlichen Zeitalters nicht annehmbar. Seiner erfundenen Religion fehlte jedoch eine geheime Wurzel, aber er akzeptierte alle Traditionen und Riten, die zuvor existierten, und zog sogar Priester seiner neuen Religion in Erwägung, wobei er sich selbst als ihren Propheten sah, aber als einen Propheten ohne Gott. Man sagt von ihm, er hätte seine Riten vom Katholizismus übernommen, und dafür wurde er kritisiert, denn er glaubte nicht an diese Religion, imitierte und übernahm jedoch ihre Zeremonien und Traditionen. In einer Hinsicht hatte er recht, dass nämlich der Mensch Gottesdienst und Hingabe ebenso braucht wie die Ausübung einer Reihe von Riten.

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Eine der Fragen hinsichtlich des Menschen ist Freiheit und Verantwortlichkeit. Ist der Mensch wirklich frei und unabhängig, oder hat er eine Verantwortlichkeit und einen Auftrag? Nach dem Qur'an ist der Mensch keinem Zwang vor Gott ausgesetzt. Im Gegenteil, der Mensch ist als freies Wesen erschaffen, mit einer festgesetzten Verantwortung und Aufgabe. Der Heilige Qur'an bezeichnet den Menschen als Statthalter Gottes, eine Heiligkeit, die kein Heiliges Buch je dem Menschen verliehen hat. Gott spricht im Qur'an: „ Und als dein Herr zu den Engeln sprach: ,Ich will auf Erden einen Statthalter einsetzen', sagten sie: , Willst du dort einen einsetzen, der Unheil stiftet und Blut vergießt...' Er aber erwiderte: ,Ich weiß, was ihr nicht wisst!'" (Sure 2, Vers 28). All dies ist ein Beweis für die Fähigkeiten und Möglichkeiten des Menschen. Man sieht also, dass der Islam, der eine Schule der Menschlichkeit ist, von einem philosophischen Standpunkt her an die erhabene Stellung des Menschen glaubt. Der Qur'an sagt außerdem, dass Gott den Menschen die Namen aller Dinge lehrte.2 Dann erwies sich dieser mit diesem Wissen als den Engeln überlegen, und Gott tadelte die Engel wegen dessen, was sie über die Menschlichkeit nicht wussten, und während sie den Menschen für ein Geschöpf des Zornes und der Begierde hielten, hatten sie die andere Seite seines Charakters ignoriert. Die Engel gestanden ihre Unwissenheit ein und baten ihn um Vergebung. Dann forderte Gott die Engel auf, sich vor seinem Geschöpf niederzuwerfen.3 Die höchste Interpretation, die dieses Gebot erfahren kann, um die Aufgabe, Freiheit und Wahlmöglichkeit des Menschen zu zeigen, ist die, dass Gott ihn zum Statthalter und Nachfolger seiner Selbst macht. Gott ist der Schöpfer, und hier überträgt er etwas von seiner Schöpferkraft auf den Menschen, damit dieser davon profitiert.

Eine andere Frage hinsichtlich des Menschen bezieht sich auf sein Glück und seine Freude. Ich sage kurz, dass der Mensch nach Freude strebt. Wo ist diese zu finden? Liegt sie innerhalb des Selbst oder außerhalb, oder sowohl innerhalb als auch außerhalb und wenn ja in welchem Verhältnis? Diejenigen, die ihre Aufmerksamkeit auf Quellen außerhalb ihrer Selbst konzentrieren in der irrtümlichen Annahme, dies sei die ganze Lebensfreude, sind nicht in der Lage gewesen, sich selbst als Menschen zu erkennen. Sie können ihr inneres Leben nicht als Quelle der Freude und des Glücks betrachten. Ihre Begeisterung liegt im Weinglas und im Vergnügen.

2 Vgl. al-Baqara, Vers 31.

3 Vgl. al-Baqara, Vers 32.

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Wie treffend beschreibt doch Rumi eine Person, die dem Trinken ergeben ist, und weist sie zur Rechtschaffenheit und weg vom Übel, indem er sagt: „Du bist das Symbol der Existenz, warum strebst du nach Vernichtung? Du, der du ein Ozean bist, was willst du werden? Warum verschuldest du dich dem Wein?"

Er fährt fort zu sagen, dass der Mensch die Substanz ist und die Welt die Form. Es ist gleichermaßen falsch, alle äußeren Dinge abzulehnen und ins andere Extrem zu gehen, indem man meint, alle Freude müsse innerlich gesucht werden. Wir finden eine solche Übertreibung in einigen Gedichten Rumis, wo er sagt: „Sieh, der Weg der Freude ist innerlich, nicht äußerlich; und bedenke, dass es unsinnig ist, Bräuche und Traditionen zu verlassen. Mancher ist glücklich und berauscht in einer Gefängnisecke, manch' anderer ist in seinem Garten voller Kummer."

Er meint nicht, dass alle äußerlichen Dinge beiseite gelassen werden sollten, aber gleichzeitig sollte man nicht meinen, dass alle Freude in materiellen Dingen zu finden sei. Das Selbst ist das Zentrum der Freude, und zwischen dem Inneren und Äußeren sollte ein Gleichgewicht bestehen.

Vieles gibt es über den Menschen zu sagen. Die Denkschule, die sich als menschlich betrachtet, sollte in der Lage sein, gewisse Fragen zu beantworten, um als wirklich humane Schule akzeptiert zu werden. Der Mensch wurde als das Tor der Spiritualität angesehen, d. h. man kann die spirituelle Welt durch das eigene Wesen entdecken. Spiritualität und Menschlichkeit oder Religion und Menschlichkeit sind zwei voneinander untrennbare Dinge. Wir können nicht das eine davon akzeptieren und das andere vernachlässigen.

Der Widerspruch, der, wie wir behaupten, in verschiedenen wahrhaft humanistischen Schulen liegt, besteht darin, dass der Niedergang der Menschlichkeit, besonders durch eine Veränderung der ptolemäischen Astronomie, uns nicht an der erhabenen Stellung des Menschen als Ziel im Verlauf der Schöpfung zweifeln lassen sollte. Der Mensch ist das Ziel des Universums, ob die Erde das universale Zentrum ist oder nicht. Was bedeutet nun der Ausdruck „Ziel des Universums"? Er besagt, dass sich die Natur in ihrem evolutionären Lauf in eine bestimmte Richtung bewegt, ob wir den Menschen als spontan erschaffen betrachten oder als eine Fortführung anderer Arten. Es macht für diesen Prozess keinen Unterschied, ob wir der Ansicht sind, dass er einen göttlichen Geist besitzt, oder nicht.

Gott spricht: „ Wenn ich ... ihm meinen Geist eingehaucht habe... "4

4 Sure al-HiJr, Vers 29.

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Er hat nicht gesagt, der Mensch sei die Gattung Gottes. Wenn er gesagt hätte, die Substanz, aus der der Mensch erschaffen ist, stamme aus einer anderen Welt, dann wäre der Mensch ein erhabenes und heiliges Wesen.

Denjenigen von Ihnen, deren Philosophie humanistisch ist, stellen wir die Frage: Gibt es im Menschen ein Gefühl, das als Wohltätigkeit, Güte oder Dienstbereitschaft bezeichnet werden kann, oder nicht? Wenn Sie sagen, dass es so etwas nicht gibt, dann wäre es ebenso sinnlos, dem Menschen eine solche Eigenschaft zuzuschreiben, wie ihn als Stein oder als Tier zu bezeichnen. Der Mensch hat jedoch Gefühl. Was für ein Gefühl? Mancher sagt vielleicht, das Gefühl der Dienstbereitschaft sei eine Art Ersatz. Was bedeutet das? Wenn wir etwas erleben und unser humanistisches Gefühl angeblich erweckt wird, hinzugehen und die Unterdrückten zu beraten, ihnen zu dienen und sie zu retten, wird uns gesagt, dass wir, wenn wir tiefer darüber nachdenken, uns als Menschen in ihre Lage versetzen, indem wir uns zuerst vorstellen, sie gehörten unserer Gruppe an, oder unsere Gruppe sei mit ihnen verknüpft, und dann setzen wir uns an ihre Stelle. Danach wird das Gefühl des Eigeninteresses, das uns die Selbstverteidigung ermöglicht, erweckt, um die Unterdrückten zu verteidigen; ansonsten gibt es keine echtes Gefühl im Menschen, eine unterdrückte Person direkt zu verteidigen.

Die Schule der Menschlichkeit muss zunächst die Frage beantworten, ob ein solches Gefühl im Menschen existiert oder nicht. Wir antworten, dass es existiert, weil er zum Statthalter Gottes5 ernannt worden ist, und als Manifestation der göttlichen Großzügigkeit und Güte. Das bedeutet, dass der Mensch, während er in seinem Eigennutz verpflichtet ist, für sein Überleben aktiv zu werden, doch nicht in der Gesamtheit seiner Existenz eigennützig ist. Der Mensch verfügt auch über Wohltätigkeit, Menschlichkeit, Aufbaufähigkeit für die Welt und ein moralisches Gewissen. Als ich vor einiger Zeit in Schiraz war, wurde ich einer Organisation vorgestellt, die sich als „Glückliche Organisation" bezeichnete und aus Individuen mit Gefühl und persönlichem Glauben und einer Gruppe von Taubstummen bestand. Ich besuchte eine ihrer Unterrichtsveranstaltungen. Für uns anspruchsvollen Leute wäre es erschöpfend, auch nur eine Stunde in einer solchen Klasse zu verbringen und sie und ihre eigenartige Zeichensprache zu beobachten. Ihr Lehrer zeigte viel Interesse und Sympathie für diese Kinder, obwohl sein Gehalt geringer war als das eines Grundschullehrers, denn dieser Organisation fehlten die Mittel. Er lehrte sie Schreiben und brachte ihnen mit viel Aufwand und Mü-

1 Vgl. Sure al-Pams, Vers 8.

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he die Bedeutung von Wörtern nahe. Was ist dieses Gefühl im Menschen? Es ist die Manifestation der Menschlichkeit und ihrer Wahrhaftigkeit. Was ist im Allgemeinen das Lob für den Guten und die Abscheu vor dem Krankhaften, selbst wenn sie der fernen Vergangenheit zugehören? Wenn wir die Namen von Yazid und Pimr hören und uns an ihre Bosheit und Verbrechen erinnern, und wenn andererseits die Namen der Märtyrer von Kerbala erwähnt werden, dann haben wir ein Gefühl der Abscheu der ersten Gruppe gegenüber und ein Gefühl der Bewunderung und des Respekts gegenüber letzteren. Was ist der Grund dafür? Ist es ein Klassengefühl, das uns veran-lasst, uns selbst als der Gruppe der Märtyrer von Kerbala zugehörig anzusehen und Yazid und Pimr so zu verabscheuen, wie wir unsere Feinde verabscheuen? Projizieren wir unsere Gefühle der Zuneigung und des Hasses auf die jeweilige Gruppe, während in Wirklichkeit beide mit uns verbunden sind? Wenn dies der Fall ist, dann ist die Person, die man als seinen Feind ansieht, nichts anderes als man selbst. Ihrerseits hat sie das Recht, diejenigen zu loben, die man verabscheut, und diejenigen zu hassen, die man lobt.

Im Gegensatz dazu kann man dies von einer anderen Perspektive aus betrachten, die nicht persönlich und individuell, sondern auf die ganze Menschheit bezogen ist, wo es nicht um persönliche Antipathie, sondern um die Wahrheit geht. Hier ist die eigene Verbindung zu den Märtyren im Lob bzw. in der Abscheu gegenüber deren Feinden nicht persönlicher sondern allgemeiner und universaler Natur.

Die Schule der Menschlichkeit muss eine Antwort darauf geben, was diese Gefühle sind und woher sie stammen sowie auf solche Themenbereiche wie die ehrliche Liebe und Dankbarkeit des Menschen gegenüber jemanden, der ihm Gutes getan hat. Wenn die Echtheit der menschlichen Werte entdeckt wird, dann stellen sich auch die Fragen nach dem Menschen. Ist der Mensch, der diese wahren Qualitäten hat, dieselbe Person, von der der Materialismus spricht? Ist diese Person eine Maschine, ein Satellit? Eine Maschine, wie groß auch immer, ist nur groß. Wenn eine Maschine tausendmal größer als ein Raumschiff gebaut wird, was könnten wir dazu sagen? Wir könnten sagen, es sei groß, erstaunlich und außergewöhnlich, aber nicht edel oder heilig. Selbst wenn es millionenfach größer wäre und aus einer Milliarde Einzelteilen bestehen würde, könnte es zwar als außergewöhnlich, nicht jedoch als edel, heilig oder verehrungswürdig bezeichnet werden. Wie können die Menschenrechtserklärung und die kommunistischen Philosophen, die die menschliche Wirklichkeit in verschiedener Form unterstützen, von inhärenter Würde und Heiligkeit des Menschen sprechen, ohne Gottes Wort zu be-

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achten, das besagt: „ Wir hauchten ihm von unserem Geist ein "? Wenn sie die Echtheit dieser Werte bestätigen, dann können sie die Echtheit des Menschen selbst bestätigen.

Angenommen, wir erkennen diese Echtheit des Menschen: ist es lediglich der Mensch, der in diesem Universum existiert, das sich in unendlicher Dunkelheit befindet? Ist der Mensch, wie ein Europäer sagt, nur ein Schweißtropfen in einem Giftmeer, das zufällig erschaffen wurde? Oder ist der Mensch ein Tropfen Süßwasser in einem süßen Ozean? Repräsentiert dieses kleine Licht das universelle Licht? Hier wird die Beziehung der Echtheit des Menschen bei Gott deutlich, denn sie beide sind untrennbar. In dem Satz im Heiligen Qur'an: „ Gott ist das Licht der Himmel und der Erde ",6 bezeichnet das Wort Gott nicht das, was Aristoteles Erste Ursache nennt, denn das ist etwas anderes als der Gott des Islam. Sein Gott ist dem Universum fremd und von ihm getrennt. Was jedoch den Gott des Islam betrifft, so gibt der Satz: „ Er ist der Erste und der Letzte, der Innere und der Äußere ",7 wenn man ihn hört, gleich ein ganz anderes Weltbild wieder. Dann versteht man die Bedeutung aller echten Qualitäten in sich selbst und erkennt, dass es ein Ziel gibt. Man wird sehen, dass wenn man ein Lichtstrahl ist, eine ganze Welt von Licht existiert, und wenn man ein Tropfen Süßwasser ist, dann deswegen, weil ein unendlicher Ozean von Süßwasser existiert, und ein Strahl seines Lichts ist in jedem. Der Islam ist eine auf menschlichen Kriterien begründete humanistische Schule. Nichts darin ist auf falscher Diskriminierung zwischen Menschen begründet. Im Islam existiert weder Land noch Rasse noch Blut noch Gebiet noch Sprache. Diese Dinge sind kein Beweis und Kriterium für einen Vorzug des Menschen. Das Kriterium im Islam sind jene menschlichen Werte. Wenn er diese Werte respektiert, liegt es daran, dass er an die Echtheit des Menschen und des Universums, d. h. an Gott, den Allmächtigen, glaubt. Darum ist der Islam die einzige humanistische Schule, die auf einer ordentlichen Logik begründet ist, und es gibt keine andere derartige Schule in der Welt.

6 Sure an-Nur, Vers 35.

7  Sure 57, Vers 3.

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3. Spirituelle Freiheit

„Sprich: ,O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch, dass wir keinen anbeten denn Allah und dass wir ihm keinen Nebenbuhler zur Seite stellen und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren nehmen statt Allah.'" (Sure 3, Vers 64).

In der Diskussion der spirituellen Freiheit möchte ich zunächst drei Punkte unterscheiden:

1.     Das Wesen der Freiheit.

2.     Die Arten von Freiheit, wenngleich ich mich hier auf zwei Arten beschränke, nämlich die spirituelle Freiheit und die soziale Freiheit.

3.     Die Beziehung zwischen diesen beiden Arten der Freiheit und das Ausmaß, in welchem spirituelle Freiheit ohne soziale Freiheit möglich ist und umgekehrt.

Die Diskussion wird sich vor allem um den letzten Punkt drehen, nämlich die Beziehung zwischen diesen beiden Arten der Freiheit.

Freiheit ist eine Voraussetzung für Leben und Evolution und eines der größten Bedürfnisse der Menschen. Der Unterschied in der Freiheit der Lebewesen liegt in ihrer unterschiedlichen Struktur. Der Mensch braucht eine Freiheit, die über die von Pflanzen und Tieren hinausgeht. Jedes Lebewesen muss wachsen und sich vervollkommnen; es kann nicht gleich bleibend sein. Feste Körper wachsen nicht, so dass sie kein Bedürfnis nach Freiheit haben, doch Lebewesen benötigen drei Dinge für ihr Wachstum und ihre Entwicklung: Ernährung, Sicherheit und Freiheit.

Die Ernährung setzt sich aus einer Reihe von Faktoren zusammen, die von den Lebewesen für ihr Wachstum benötigt werden. Eine Pflanze z. B. braucht Erde, Wasser, Licht und Wärme, um zu wachsen. Ein Tier braucht Nahrung und andere Dinge. Ein Mensch braucht das gleiche wie Pflanzen und Tiere und zusätzlich eine Reihe anderer Dinge, die alle für ihn wie Nahrung sind. Wie können wir ohne Essen existieren? Die Fähigkeit zur Ernährung ist ein notwendiges Gut für ein Lebewesen.

Die nächste Erfordernis ist für ein Lebewesen die Sicherheit. Was bedeutet Sicherheit? Es bedeutet die Fähigkeit, all das, was für das Leben nötig ist, zu bewahren. Weder ein Feind noch eine fremde Macht sollte ihm diese Dinge vorenthalten. Über die Ernährung hinaus braucht es Sicherheit, um sein Leben, seine Gesundheit und seinen Besitz gegen Aggression zu schützen.

Das dritte Bedürfnis ist Freiheit. Freiheit bedeutet die Abwesenheit von Hindernissen auf dem Weg des Wachstums. Für das Wachstum einer Pflan-

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ze muss man z. B. zusätzlich zu den bereits genannten Voraussetzungen eine geeignete Umgebung schaffen und alle Hindernisse beseitigen. Wenn man einen Baum unter einem Dach pflanzt, wird ihm in der Höhe ausreichender Platz vorenthalten, so dass er nicht sein volles Wachstum erlangen kann. Jedes Lebewesen braucht für sein Wachstum und seine Entwicklung Freiheit. Was diese Freiheit ausmacht ist das Fehlen von Hindernissen. Freie Personen sind jene, die gegen alle Hindernisse kämpfen, die auf ihrem Weg der Entwicklung und der Vervollkommnung stehen. Sie unterwerfen sich nicht den Hindernissen.

Der Mensch ist ein besonderes Wesen, und er führt ein soziales Leben; darüber hinaus ist sein individuelles Leben komplexer Natur. Menschen unterscheiden sich sehr von Pflanzen und Tieren; sie haben eine Reihe anderer Bedürfnisse, die in zwei Arten unterteilt werden können. Eines davon ist die soziale Freiheit. Was ist darunter zu verstehen? Soziale Freiheit bedeutet, dass man in den Beziehungen zu anderen Individuen in der Gesellschaft frei ist und nicht an der Entwicklung gehindert wird, dass nicht versucht wird, sie zu kontrollieren, zu versklaven, auszubeuten oder ihre physischen und mentalen Kräfte um der eigenen Interessen willen auszubeuten. Das wird als soziale Freiheit bezeichnet, die vielerlei Gestalt annehmen kann.

Eines der größten Probleme der Menschheit in der gesamten Geschichte hindurch war eben dieser Missbrauch von Macht seitens mächtiger Elemente bei der Unterwerfung und Versklavung anderer, um die Früchte deren Arbeit zu genießen. Ausbeutung bedeutet, dass man die Früchte eines anderen für sich selbst nimmt. Das Wesen eines jeden Menschen gleicht einem Baum voller Früchte; Arbeit und Gedanken sind die Früchte dieses Baumes. Die Ernte dieses Baumes steht jedem Menschen selbst zu. Wenn sich diese jedoch ein anderer Mensch aneignet, dann sagen wir, dass er die betreffende Person ausbeutet.

Die gesamte Menschheitsgeschichte zeigt, dass Menschen von anderen Menschen ausgebeutet und versklavt wurden, oder zumindest wurden sie der Möglichkeit beraubt, dem Ausbeuter die Gelegenheit zu geben, sich ein Maximum an Nutzen zu sichern. Angenommen z. B., ein Stück Land gehört zwei Männern zusammen, doch einer von beiden, der stärker ist, nimmt das ganze Land in seinen Besitz und vertreibt den anderen oder beschäftigt ihn als einen Arbeiter - dies wäre ein Form der Sklaverei.

Der Heilige Qur'an nennt uns als eines der expliziten Ziele der Propheten, der Menschheit soziale Freiheit zu bringen und sie von ihrer vielfältigen Versklavung zu befreien. Der Qur'an ist ein wundervolles Buch. Einige

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Ideen gedeihen in einem bestimmten Zeitabschnitt, während sie zu anderen Zeiten ihren Glanz verlieren. Doch mit dem Qur'an verhält es sich anders, denn seine Vorstellungen und Worte besitzen einen permanenten Glanz, und das erinnert an ein Epos oder Wunder. Eine davon ist die Idee der sozialen Freiheit. Ich glaube nicht, dass man diesbezüglich irgendwo einen Satz finden kann, der lebendiger wäre als das, was man im Qur'an vorfindet: „Sprich: ,O Volk der Schrift, kommt herbei zu einem Wort, das gleich ist zwischen uns und euch..'" (Sure 3, Vers 64).

Was ist mit diesem „Wort" gemeint? Es besteht aus zwei Sätzen: Der erste ist, „ dass wir keinen anbeten denn Allah " - weder Christus noch irgendein anderer noch der Teufel sollten angebetet werden, sondern einzig Gott allein. Und zweitens: „und dass nicht die einen unter uns die anderen zu Herren nehmen..."; das bedeutet die Abschaffung des Ausbeutungssystems, des Ausbeuters und des Ausgebeuteten, die Abschaffung der Ungleichheit und des Rechtes zur Versklavung. Dies ist nicht der einzige Vers über diese Angelegenheit im Heiligen Qur'an. Es gibt viele davon, doch ich werde der Kürze wegen nur einige nennen.

Der Qur'an zitiert Moses in seiner Auseinandersetzung mit Pharao, wo letzterer sprach: „Und du begingst jene deine Tat, die du begangen, und du warst ein Undankbarer. " (Sure 26, Vers 19). Und Moses antwortete: „Und das ist die Huld, die du mir vorhältst, dass du die Kinder Israels geknechtet hast? " (Sure 26, Vers 22). Der Pharao hatte Moses daran erinnert, dass er der Mensch ist, der im Hause und am Tische Pharaos aufgewachsen ist und als Erwachsener das Verbrechen begangen hat, einen Menschen zu töten. Damit wollte er erreichen, dass Moses sich ihm gegenüber niedrig und verpflichtet fühlt. Doch Moses erklärte, dass er angesichts der Versklavung seines Volkes allein aufgrund der Tatsache, dass er in dem Haus aufgewachsen ist, keineswegs schweigen könne.

Der verstorbene Ayatollah Na'ini sagt in seinem Buch „Tanzih-ul-umma": Jedermann weiß, dass das Volk Mose den Pharao niemals so anbetete wie die Ägypter, weil aber der Pharao sie zu seinen Sklaven machte, gebraucht der Qur'an den Begriff „Versklavung" in dem von Mose gebrauchten Sinn." Wir wissen definitiv, dass es eines der Ziele der Propheten ist, soziale Freiheit herzustellen und gegen jede Form der Versklavung und sozialen Ausbeutung zu kämpfen.

Auch die Welt von heute sieht soziale Freiheit als etwas Heiliges an, und wenn man die Allgemeine Menschenrechtserklärung gelesen hat, wird man sehen, dass die Hauptursache aller Kriege, Unglücke und allen Blutvergie-

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ßens in der Missachtung der Freiheit des Menschen durch Menschen liegt. Stimmt die Logik eines Propheten so weit mit moderner Logik überein? Ist Freiheit heilig? Ja, sie ist heilig und sogar sehr.

Eine andere Art der Freiheit ist die spirituelle Freiheit. Der Unterschied zwischen der Schule des Propheten und anderen menschlichen Schulen liegt darin, dass die Propheten gekommen sind, um der Menschheit sowohl spirituelle Freiheit wie auch soziale Freiheit anzubieten, wobei erstere einen größeren Wert hat als alles andere. Sowohl soziale Freiheit wie auch spirituelle Freiheit sind heilig, und die erste Art der Freiheit ist nicht möglich ohne die letztere. Die Schwierigkeit in der menschlichen Gesellschaft liegt darin, dass sie versucht, die soziale Freiheit zu sichern ohne die spirituelle Freiheit anzustreben. In der Tat ist sie nicht fähig, dies zu tun, da spirituelle Freiheit nur durch Prophetentum, Propheten, Glauben und göttliche Schriften erlangt werden kann.

Der Mensch ist ein komplexes Wesen mit verschiedenen Kräften und Instinkten, mit Kraft, Gelüsten, Zorn, Neid, Ambition und Hang zum Übermaß. Andererseits wurden ihm Verstand und mentales und moralisches Be-wusstsein gegeben. Innerlich und spirituell mag der Mensch das Selbst als frei oder versklavt empfinden. Er kann ein Sklave seines Neids, Zorns, etc. sein, oder er kann frei von all diesen Sünden sein.

Ein Mensch kann so menschlich sein, dass er sozial frei ist und Elendigkeit und Knechtschaft und soziale Freiheit somit ethisch bewahrt. Dieser Mensch hält auch sein Bewusstsein, seinen Geist und seine Intelligenz frei. Diese Art der Freiheit wird „Selbstläuterung" oder in der Religion auch „Tugend" genannt.

Können Menschen soziale Freiheit ohne spirituelle Freiheit haben? Das heißt, können sie Sklaven ihrer eigenen Begierden, ihres Zorns, Neides usw. sein und zur gleichen Zeit die Freiheit anderer respektieren? Heute wird meist mit ja geantwortet und praktisch von jedem Menschen erwartet, dass er der Sklave seines Zorns, Neids etc. ist und zur gleichen Zeit die soziale Freiheit respektiert. Dies ist eines der vielen Beispiele widersprüchlicher Vorstellungen, an denen die menschliche Gesellschaft leidet.

In frühen Zeiten hatten Menschen keinen Respekt für die Freiheit und traten sie mit Füßen. Warum? War der Grund dafür, dass sie andere ihrer Freiheit beraubten, ihre Unwissenheit? Können wir sagen, dass sie, als sie Weisheit gewannen, es als nötig erachteten, die Freiheit anderer zu respektieren? Können wir dies mit einer Krankheit vergleichen? Bei Krankheit fanden sie ihre zufälligerweise gefundenen Mittel kaum wirksam genug, doch nun, mit

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dem erweiterten Wissen, können sie es sich leisten, ihre alten Behandlungsmethoden aufzugeben und nach neuen und wirksamen zu greifen.

Dass bei den früheren Völkern Menschen ihrer Freiheit beraubt wurden, hatte nichts zu tun mit Unwissenheit oder Wissen. Menschen waren sich ihrer Handlungen, die ihren eigenen Interessen dienten, voll bewusst. Beruhte ihr mangelnder Respekt für die Rechte und Freiheit der anderen auf der Gesetzgebung? Wenn dies zutrifft, könnte dann eine Gesetzesänderung eine Änderung im Verhalten bewirken? Hat z. B. die Abschaffung der Sklaverei in den Vereinigten Staaten der Sklaverei wirklich ein Ende gesetzt oder hat sie nur die Form der Sklaverei verändert, ohne den Zusammenhang zu verändern? Basierte diese Missachtung der Freiheit anderer auf ihrer Art des Denkens und ihrer Philosophie?

Es war nichts davon; es war nichts anderes als Selbstinteresse. Als ein Individuum strebte der Mensch nur danach, für sich selbst den größtmöglichen Gewinn und Nutzen aus jedem möglichen Mittel zu sichern. Andere Menschen waren ein solches Mittel für ihn, und er benutzte sie auf die gleiche Weise, wie er Holz, Stein, Eisen und Haustiere benutzte. Wenn er einen Baum pflanzte oder fällte, war das letzte, woran er dachte, der Baum selbst. Er dachte nur daran, wie ihm der Baum nutzen könnte. Wenn er ein Schaf mästete und es dann schlachtete, was war dann sein Ziel außer Selbstinteresse? Wenn er andere Menschen versklavte und sie ihrer Rechte beraubte, dann geschah dies nur zu seinem eigenen Nutzen. Somit waren alle seine Handlungen einschließlich der Missachtung der Freiheit anderer Menschen auf seinem Eigeninteresse gegründet. Ist der heutige Mensch auch so? Ja. Er ist es, und er hat sich überhaupt nicht verändert. Im Gegenteil muss gesagt werden, dass er sein Maul noch weiter aufsperrt, so dass er noch mehr verschlingen kann.

Weder Wissenschaft noch Gesetze waren in der Lage, Habsucht zu zügeln. Das einzige, was sie getan haben war, ihre Form zu verändern. Der Inhalt ist der Gleiche, aber mit einer neuen Hülle. Der Mensch war in früheren Zeiten ein freimütiges Wesen und hatte den Zustand der Heuchelei noch nicht erreicht. Als der Pharao das Volk versklavte, sagte er freimütig zu Moses: „ Sollen wir an zwei Menschen gleich uns glauben, wo ihr Volk uns untertänig ist? " (Sure 23, Vers 48). Pharao hat seine Ausbeutung und Versklavung nicht versteckt, doch heute berauben Menschen andere all ihrer Rechte und ihrer Freiheit im Namen einer freien Welt und unter dem Vorwand, Frieden und Freiheit zu verteidigen. Warum ist das so? Weil es den Menschen an spiritueller Freiheit fehlt und sie in ihren Seelen nicht tugendhaft und frei

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sind. Imam 7Ali (a.s.) hat sich wie folgt über Tugend geäußert: „Göttliche Tugend ist der Schlüssel zu jeder Wahrheit, Vorrat für den Tag der Auferstehung, Grund für die Befreiung von jeder Art der Sklaverei und Befreiung von jeder Ursache von Verderben."

Dies bedeutet, dass Tugend den Menschen von jeder Art der Knechtschaft und auch spirituell befreit, so dass er fähig wird, anderen ihre Freiheit zu geben. Wer ist dann ein wirklicher freier Mensch in der Welt? Es sind Menschen wie 7Ali ibn Abi Xalib (a.s.) oder jene, die auf der gleichen Stufe stehen wie er, denn sie sind, zunächst einmal, von den Fesseln des Selbst befreit. Nur ein Mensch, in dessen Herzen und Bewusstsein es einen himmlischen Ruf gibt, kann die Rechte und Freiheit anderer ohne die geringste Heuchelei respektieren. Wenn ein solcher Mensch Tugend, Keuschheit und Gottesfurcht besitzt, ist er in einer herrschenden Position; er fühlt sich niemals als ein Mensch, der Macht hat und dem andere Menschen unterworfen sind.

Das ist gemeint mit einer großzügigen Person, die spirituelle Freiheit besitzt und den Ruf des Qur'an angenommen hat, „ niemanden denn Gott zu verehren ". Weder Mensch, Stein, Himmel oder Erde sind es wert, verehrt zu werden - einzig Gott. Eine Predigt von 7Ali (a.s.) vermittelt uns eine Vorstellung von seiner Großzügigkeit und Spiritualität. Sie bezieht sich auf die gegenseitigen Rechte des Regierenden und der Regierten. 7Ali (a.s.) rät als Regierender seinem Volk, sich frei von ihm zu fühlen und ihren Regierenden nicht als ihnen selbst überlegen anzusehen. Er fordert sie auf, so mit ihm zu sprechen, wie sie mit gewöhnlichen Menschen sprechen. Er sagt: „Wenn sie ihn zufällig zornig und wütend erleben, sollten sie nicht den Mut verlieren, sondern frei ihre Einwände vorbringen." Er fährt damit fort, dass sie nicht jedem Wort und jeder Handlung von ihm zustimmen sollten; sie sollten nicht annehmen, dass ihre wahren Worte für ihn zu schwer zu ertragen sind. Im Gegenteil wäre er sehr erfreut, Wahrheit und richtige Kritik zu hören. Er führt weiter aus, dass obwohl er der Herrscher und Kalif ist und sie seine Untertanen sind, sie ihn nicht lobpreisen und ihm nicht schmeicheln sollten. Dann definiert er ein allgemeines Prinzip, indem er sagt, dass ein Mensch, der die Wahrheit nicht ertragen kann, es noch viel schwerer finden wird, wahrhaft zu handeln. Abschließend bittet 7Ali (a.s.) sie, niemals ihre aufrichtigen Worte und Einwände und Ratschläge zurückzuhalten.

Dies ist ein Beispiel für einen vollkommenen Menschen, der spirituell frei ist, während er die Stufe eines Herrschers inne hatte und den anderen soziale Freiheit gewährte.

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„...Und nimmt hinweg von ihnen ihre Last und ihre Fesseln, die auf ihnen lagen... " (Sure 7, Vers 157).

Die Beschäftigung mit dem Thema der spirituellen Freiheit und ihrer Bedeutung und Notwendigkeit für die Menschheit ist besonders notwendig, weil heute die menschlichen Gesellschaften der spirituellen Freiheit wenig Aufmerksamkeit schenken, was die Ursache vieler Schwierigkeiten ist. Dies ist so offensichtlich, dass manche Völker meinen, spirituelle Freiheit sei etwas, das abgeschafft wurde, wenngleich das Bedürfnis danach viel größer ist als in der Vergangenheit.

Freiheit bedingt zwei Seiten, so dass eine Seite frei wird von den Banden der anderen. Wovon muss der Mensch bei der spirituellen Freiheit frei sein? Spirituelle Freiheit ist die Freiheit vom eigenen Selbst, im Gegensatz zur sozialen Freiheit, nämlich der Freiheit von den Banden anderer. Nun könnte man die Frage stellen, ob der Mensch vom Selbst versklavt werden kann.

Kann ein Mensch sowohl ein Sklave als auch ein Sklavenbesitzer sein? Die Antwort ist positiv. Im Falle der Tiere mag dies nicht zutreffend sein, doch was ist mit diesem merkwürdigen Wesen, das Mensch genannt wird? Wie ist es ihm möglich, zur gleichen Zeit Sklave und Herr zu sein? Der Grund hierfür ist, dass der Mensch ein komplexes Wesen ist, und das ist eine Tatsache, die von der Religion und Philosophie, Wissenschaftlern und Psychologen bestätigt wurde und über die es keine Zweifel gibt. „ Wenn ich ihn nun vollkommen geformt und ihm von meinem Geiste eingehaucht habe, dann fallet mit ihm dienend nieder. " (Sure 15, Vers 29). Es ist nicht nötig, zu wissen, was mit diesem göttlichen Geist gemeint ist, sondern es reicht aus, zu wissen, dass diesem irdischen Wesen etwas gewährt wurde, was nicht irdisch ist. Nach einer Überlieferung sagte der Prophet, dass Gott Engel schuf und ihnen nur Verstand gab, und er schuf Tiere und gab ihnen nur Triebe, und er schuf den Menschen und gab ihm sowohl Verstand wie auch Gelüste.

Was impliziert spirituelle Freiheit? Zweifellos brauchen wir Nahrung, um leben zu können - und je mehr wir haben, desto besser. Wir brauchen Kleidung - und je feiner diese ist, desto besser. Wir wünschen uns Ehepartner und Kinder, Luxus und materielle Dinge. Doch dabei können wir an einem Punkt angelangen, wo wir unsere Ehre und Würde behalten und uns zur gleichen Zeit mit Armut, trockenem Brot und zerschlissener Kleidung, dem Leben in einer armseligen Hütte, dem Mangel an Geld und der Not zufrieden geben müssen. Wenn wir unsere Ehre und Würde ignorieren und uns der Elendigkeit unterwerfen, stehen uns alle materiellen Nutzen zur Verfügung.

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Wir sehen, dass viele Menschen nicht bereit sind, um materieller Dinge willen Erniedrigung zu ertragen, während andere diesen Tausch akzeptieren, selbst wenn sie sich vor sich selbst schämen.

Im Gulistan beschreibt Sa 3di zwei Brüder, von denen einer reich und der andere arm war. Der reiche stand im Dienst der Regierung, der arme war ein einfacher Arbeiter, der sich seinen Lebensunterhalt durch Handwerk verdiente. Eines Tages sagte der reiche Bruder: „Warum gehst du nicht auch in den Regierungsdienst, so dass du nicht länger Härten und Schwierigkeiten ausgesetzt bist?" Der arme Bruder antwortete: „Warum arbeitest du nicht, um von Elendigkeit befreit zu werden?" Dieser Dienst mit all seinen bequemen Begleiterscheinungen bedeutet Mangel an Freiheit, denn es beinhaltet, dass man sich vor anderen beugt und demütigt. Sa 3di fährt fort und sagt, dass es dem Weisen zufolge besser ist, sich zu setzen und sein eigenes Brot zu essen als einen goldenen Gürtel zu tragen und zu stehen, um anderen zu dienen.

Betrachten wir dies von einer psychologischen Seite. Welche Gefühle veranlassen den Menschen, Schwierigkeiten, Arbeit und Armut der Demütigung vor anderen vorzuziehen? Er nennt es Knechtschaft, anderen zu dienen, obwohl es nicht die Art der materiellen Sklaverei ist. Es ist nicht seine Kraft, die versklavt ist, sondern sein Geist. Von 7Ali (a.s.) ist überliefert, dass er sagte: „Wenn du frei leben willst, arbeite wie ein Sklave, arbeite und mühe dich und schließe deine Augen vor den Nachkommen Adams, wer es auch sein mag, selbst vor Hatam Ta'i8. Stelle keine Erwartung an die geizigen und auch nicht an die großzügigen Menschen."

Er fährt fort und sagt, wenn jemandem eine Arbeit angeboten wird, und er diese als unter seiner Würde ansieht, denkt er, dass jede Art der Arbeit niedrig ist. Doch 7Ali (a.s.) denkt, dass jede Art von Arbeit besser ist, als die Hand gegenüber anderen auszustrecken. Er sagt: „Nichts ist schlimmer als zu anderen zu gehen und um etwas zu bitten."

Wenn man anderen gegenüber nicht bedürftig ist, bedeutet dies, dass man ihnen überlegen ist.

Hafic zitiert einen Spruch von 7Ali (a.s.), in dem er sagt: „Wenn du etwas brauchst, denke daran, dass du dich in einen Sklaven verwandelst, wenn du jemandem gegenüber bedürftig bist. Wenn du dieses Bedürfnis jedoch beseitigst, wirst du ihm ebenbürtig sein, und wenn du dich jemandem gegenüber

8 Eine bekannte Person, die im vorislamischen Arabien für ihre Großzügigkeit bekannt war.

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großzügig zeigst, bist du sein Herr." Dies zeigt, dass Bedürfnisse den Menschen versklaven und zwar geistig versklaven. Diese Aussagen sind schön, doch heute werden sie nicht beachtet, da die Menschheit es vorzieht, andere Probleme zu diskutieren und ethischen Fragen wenig Aufmerksamkeit zu schenken.

7Ali (a.s.) hat gesagt: „Habsucht bedeutet ewige Sklaverei." Somit sieht er Habgier als schlimmer als Sklaverei an. D. h. spirituelle Sklaverei wird hier als schlimmer als physische Sklaverei erachtet. Es gibt auch die Sklaverei gegenüber Reichtum, vor dem Moralisten die Menschheit gewarnt haben.

7Ali (a.s.) hat auch gesagt. „Die Welt ist ein Durchgang, kein Aufenthaltsort." Und „Es gibt zwei Gruppen von Menschen in der Welt. Die einen kommen, verkaufen und versklaven sich selbst und gehen, und die anderen kommen, erwerben ihre Freiheit und gehen." Diese zwei Sichtweisen können auch auf Reichtum angewandt werden: entweder ein Sklave des Besitzes zu sein oder frei davon zu sein.

In Wahrheit ist jemand, der denkt, ein Sklave des Besitzes zu sein, tatsächlich ein Sklave seiner mentalen Eigenschaften, ein Sklave der Habgier und der tierischen Natur. Leblose Dinge wie Geld, Land, Maschinen aber auch Tiere haben nicht die Macht, einen Menschen zu versklaven. Wenn man genau über diese Angelegenheit nachdenkt, entdeckt man, dass die Quelle der Sklaverei in den eigenen Besonderheiten liegt wie z. B. Habgier, Lust, Zorn und fleischlichen Begierden. Der Qur'an sagt: „Hast du den gesehen, der sich sein eigen Gelüst zum Gott nimmt... " (Sure 45, Vers 23). Reichtum allein ist keine Schande, wenn jemand gegenüber seinen eigenen Gelüsten aufmerksam ist. Wenn sich also jemand von den Fesseln seiner eigenen niedrigen Gelüste befreit, wird er erkennen, dass man nicht im Dienst des Reichtums steht. Dann erst versteht man die wahren Worte und die Bedeutung des Heiligen Qur'an: „Er ist es, der für euch alles erschuf, was auf Erden ist..." (Sure 2, Vers 29). Reichtum steht also dem Menschen zu Diensten und nicht umgekehrt. Wenn das so ist, dann haben Neid und Geiz keine Bedeutung, und wenn jemand diese beiden Eigenschaften in sich verstärkt, dann versklavt er sich selbst. Es gibt zwei Stufen für den Menschen: eine niedrige, animalische Stufe und eine höhere, menschliche.

Die Propheten wurden entsandt, um die spirituelle Freiheit der Menschheit zu schützen. Das bedeutet, die Ehre, Menschlichkeit, den Verstand und das Bewusstsein des Menschen davor zu schützen, den eigenen Gelüsten, Wünschen und Interessen unterworfen zu werden. Frei ist, wer seine Gelüste erobert und nicht umkehrt. Wenn man etwas Unerlaubtes bekommen kann,

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doch Glaube, Bewusstsein und Verstand es einem verbieten, dann hat man seine Begierden überwunden, und dann kann man sagen, dass man spirituell wirklich frei ist. Der Mensch wird von zwei Arten des Ego beherrscht, einem animalischen und einem menschlichen Ego. Wenn man im Geist frei sein will, kann man sich nicht seinen Gelüsten und Trieben hingeben.

In der NahJ-ul-Balaga wird erwähnt, dass der Prophet eines Tages zu den Ansar kam, und einer von ihnen sagte: „Ich fühle mich so, dass die ganze Welt für mich wertlos ist." Der Prophet schaute ihn an und sagte: „Nun kann ich sagen, dass du frei bist." Dies macht deutlich, dass die geistige Freiheit in sich selbst etwas Reales ist.

Wir können andere Gründe nennen, die belegen, dass die menschliche Persönlichkeit komplex ist, und dass jemand entweder spirituell frei oder versklavt sein kann. Gott, der Allmächtige, hat dem Menschen die Macht gegeben, sein eigener Richter zu sein. In der Gesellschaft hat der Richter den Kläger und den Beklagten vor sich. Aber wie kann eine Person zur gleichen Zeit Ankläger, Beklagter und Richter sein?

Jemand wird beispielsweise gerecht genannt. Was ist ein gerechter Mensch? Bedeutet es nicht, dass ein Mensch unparteiisch über die Probleme urteilen und ein Urteil verkünden kann, wenn jemand schuldig ist? Weist dies nicht auf das komplexe Wesen des Menschen hin? Oftmals sieht man Menschen, die gerecht über sich selbst urteilen und die Rechte der anderen ihren eigenen Rechten vorziehen. Das wichtigste Anliegen der Propheten ist die Sicherung spiritueller Freiheit. Spirituelle Freiheit heißt, dass die höhere (humane) Seite frei ist von der niederen (animalischen). Selbstläuterung ist in der Tat spirituelle Freiheit. Der Qur'an sagt über die Seele: „ Wahrlich, wer sie lauterer werden läßt, der wird Erfolg haben; und wer sie in Verderbnis hinabsinken läßt, der wird zuschanden. " (Sure 91, Verse 9 und 10).

Der größte Schaden in der heutigen Zeit liegt darin, dass Freiheit auf soziale Freiheit beschränkt wird. Es wird niemals von spiritueller Freiheit gesprochen, und folglich ist die soziale Freiheit niemals gesichert. Philosophische Schulen ignorieren heute den Menschen, seine Persönlichkeit, seine spirituelle Ehre und Gottes Offenbarung völlig. „ Wenn ich ihm von meinem Geiste eingehaucht habe.." (Sure 15, Vers 29) ist vergessen. Sie leugnen, dass der Mensch eine animalische und eine menschliche Seite hat. Sie behaupten, dass er sich nicht von Tieren unterscheidet und der Stärkste überlebt. Das bedeutet, dass jede individuelle Anstrengung auf seinem individuellen Interesse basiert. Wie viel Schaden wurde damit der Menschheit zugefügt? Sie sagen, dass das Leben ein Kampf ist und die Welt ein Kampfplatz.

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Sie sagen auch, dass ein Recht das ist, was jemand erhält, nicht was man gewährt. Doch die Wahrheit ist, dass ein Recht sowohl genommen als auch gegeben werden muss und nicht etwas ist, was nur durch Gewalt genommen wird. Die Propheten kamen nicht, um zu sagen, dass ein Recht mit Gewalt genommen werden muss, sondern, um die Unterdrückten davon zu überzeugen, sich für ihre Rechte einzusetzen. Sie forderten auch die Unterdrücker auf, sich gegen ihre schlechten Taten zu erheben und anderen deren Rechte zu geben.

4. Großartigkeit und Vortrefflichkeit des Geistes

O du beruhigte Seele, kehre zurück zu deinem Herrn, befriedigt in (seiner) Zufriedenheit! So tritt denn ein unter meine Diener, und tritt ein in Meinen Garten!" (Sure al-FaJr, Verse 28-30).

Bei der Diskussion der Großartigkeit und Vortrefflichkeit des Geistes gilt es, die Unterschiede zwischen diesen beiden Attributen aufzeigen, denn Großartigkeit des Geistes ist eine Sache, doch Vortrefflichkeit ist eine erhabenere Eigenschaft. In anderen Worten: nicht jede Großartigkeit ist gleichbedeutend mit Vortrefflichkeit, doch jede Vortrefflichkeit beinhaltet auch Großartigkeit.

Zielstrebigkeit ist offensichtlich ein Zeichen von geistiger Größe, und es gibt verschiedene Stufen von Entschlossenheit. Eine Person ist mit dem Abitur zufrieden, während eine andere bei dem Streben nach Wissen keine Grenzen kennt und das Ziel hat, ihr Leben so gut wie möglich zu nutzen und möglichst viel Wissen zu erwerben.

Es gibt eine bekannte Geschichte von Abu Rayhan Biruni, einem Mann, dessen wahrer Wert nach Meinung der Gelehrten nicht hinreichend bekannt ist. Er war ein sehr außergewöhnlicher Mathematiker, Soziologe und Historiker, und einige sehen ihn als bedeutender an als seinen Zeitgenossen Abu Sina.

Biruni liebte das Wissen, Forschen und Entdecken. Sultan Mahmud bestellte ihn an seinen Hof, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als diesem Ruf zu folgen. Er begleitete den König bei dessen Eroberung von Indien und fand in diesem Land einen großen Wissensschatz. Doch er beherrschte nicht das Sanskrit, und so begann er es zu lernen. Trotz seines fortgeschrittenen Alters konnte er die Sprache sehr gut erlernen und nach vielen Jahren des Studiums schrieb er ein Buch namens „Tahqiq ma al-Hind min maqulihi marzulah fi al-7aql aw maqbulah", was für die Indologen überall auf der Welt eine wertvolle Bezugsquelle ist.

Als er bereits im Sterben lag, besuchte ihn ein Rechtsgelehrter, der von seiner schweren Erkrankung gehört hatte. Abu Rayhan stellte ihm eine wissenschaftliche Frage. Der Besucher wunderte sich über das Interesse eines sterbenden Menschen für eine derartige Frage. Doch Abu Rayhan sagte: „Ich sollte euch fragen, was besser ist: mit oder ohne Wissen zu sterben?" Der Mann sagte: „Natürlich ist es besser, zu wissen und zu sterben." Abu Rayhan entgegnete: „Das ist der Grund für meine erste Frage." Kurz nachdem der Rechtsgelehrte wieder nach Hause gekommen war, hörte er Klage-

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rufe und er wusste, dass Abu Rayhan gestorben war. Dieses Beispiel verdeutlicht seine Zielstrebigkeit selbst im Augenblick seines Todes.

Manche Menschen sind beispielsweise besonders erfolgreich im Ansammeln von Reichtum, während andere derartige Anstrengungen nicht verfolgen und zufrieden sind mit dem Verdienst, der für einen einfachen Lebensunterhalt reicht und mit ihren Mitteln, gleich ob sie dafür anderen dienen, betteln oder sich der Erniedrigung unterwerfen müssen. Sind diese beiden Arten der Anstrengung gleich? Keineswegs.

Manchmal sieht man die Menschen, denen Zielstrebigkeit fehlt, reich werden: Vielleicht sind sie schwach, und andere verspotten und verlachen sie. Sie rezitieren Verse des Qur'an über Askese, doch ihr Denken ist trügerisch; sie irren sich. Derjenige, der mit all seinem Geiz und mit all seiner Hingabe zur Welt das Anhäufen von Reichtum verfolgt, ist noch immer besser als jene, die eine schwache Entscheidungskraft oder gar keine Zielstrebigkeit haben und Bettlern ähneln. Nur ein wahrer Asket, der selbst ein entschlossener und zielstrebiger Mensch ist, kann jene als tadelnswert ansehen, die versuchen, Reichtümer anzuhäufen. Ein solcher Mensch kann z. B. wie Imam 7Ali (a.s.) Reichtümer sammeln - jedoch nicht aufgrund eigener Bedürftigkeit, sondern um den Bedürftigen damit zu helfen. Er ist in einer Lage, in der er jenen tadeln kann, für den das Anhäufen und Horten von Reichtum ein Ziel ist und kein Mittel.

Ähnlicherweise strebt vielleicht jemand nach einer hohen Stellung und Position. Alexander der Große war ein solcher Mensch, der über die Welt herrschen wollte. Er ist einem Menschen überlegen, der in Sklaverei lebt und keine Entschlossenheit in Bezug auf die Vortrefflichkeit hat. Nadir Shah ist ein anderes Beispiel für einen großgesinnten Menschen. Diese Menschen haben einen großen Geist, doch es kann nicht gesagt werden, dass sie auch einen edlen Geist haben. Alexander ist ein Beispiel für großen Ehrgeiz, und seine Großartigkeit hat sich nur in eine Richtung entwickelt, nämlich in Richtung von Ehrgeiz, Ruhm, Einfluss und der mächtigste Mensch der Erde zu sein. Sein Geist ist edel nur in diesem Sinne. Doch hat dieser Mensch, der krank war von Ehrgeiz, in seinem Leben Leichtigkeit und Bequemlichkeit erfahren? Es wird von ihm erzählt, dass er in einer sehr harten Winternacht allein an einer Karawanserei ankam. Der Hauswirt wurde von einem lauten Klopfen geweckt, und als er das Tor öffnete, sah er einen stämmigen Mann auf einem großen Pferd. Der Reiter fragte mit barschem Ton nach Essen und Futter für sein Pferd. Der Reiter ruhte sich etwa zwei Stunden aus, dann warf er dem Wirt einige Goldmünzen zu und sagte: „Bald wird eine Reiterkolon-

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ne hier eintreffen. Sag' ihnen, dass Nadir in diese Richtung geritten ist und sie sofort folgen müssen." Nadir wies ihn an, aufs Dach zu gehen und den Soldaten seinen Befehl zuzurufen; sie sollten nicht einen Moment verlieren und ihm schleunigst folgen. Die Männer murrten zwar, als sie die Botschaft hörten, doch keiner von ihnen wagte es, auch nur eine Minute zu verharren, um sich zu erfrischen.

Jemand mag ein Nadir werden, doch er kann niemals ein bequemes Bett, feines Essen und viele andere Bequemlichkeiten genießen. Sein Körper kann sich niemals entspannen, und schließlich wird er sterben. Wer auch immer große Zielstrebigkeit hat, gleich in welchem Bereich, wird keine körperliche Ruhe finden. Doch keiner dieser Männer besaß einen vortrefflichen Geist. Ihr Geist war groß, doch nicht vortrefflich. Man stelle sich einen Menschen vor, der sehr gelehrt ist, aber keine anderen guten Eigenschaften hat; einem anderen gelingt es, Reichtum anzusammeln; wieder ein anderer ist voll von Hass, Neid und Ehrgeiz. Alle von ihnen sind außergewöhnlich selbstsüchtig, doch keiner von ihnen ist vortrefflich und großmütig.

Der Punkt ist, dass es aus einer psychologischen und philosophischen Sichtweise eine andere Art von Größe gibt, die nicht von Egoismus abhängt und Menschlichkeit genannt wird.

Ich habe bisher nicht gesehen, wie Materialisten diesen Aspekt des Menschen wegdiskutieren. Was lässt den Menschen, oder zumindest einige Individuen ein Gefühl von Ehre haben, etwas, was über den Egoismus hinausgeht? Ein solcher Mensch möchte groß und edel sein, doch nicht auf Kosten eines anderen. Der Geist erlaubt es ihm nicht, zu lügen. Vortrefflichkeit ist das Gegenteil von Niedrigkeit, und ein Mensch vermeidet die Niedrigkeit.

Von dem italienischen Diktator Mussolini wird berichtet, dass er einem Freund sagte, dass er es vorziehe, ein Jahr wie ein Löwe zu leben statt 100 Jahre wie ein Schaf. Er bestand darauf, dass sein Freund seine Worte niemandem erzählen sollte, da sein „Löwe sein" bedeute, dass andere Menschen Schafe sind; wenn die Menschen Mussolinis Wunsch verstehen würden, würden auch sie gern Löwen sein wollen, und dann hätte der Diktator nicht länger ein Löwe sein können. Es gibt keine Vortrefflichkeit in einer solchen Haltung.

Doch wie ist ein edler Mensch? Es ist ein Mensch, der möchte, dass alle Menschen in der Welt Löwen und keine Schafe sind. Der Prophet hat gesagt: „Ich wurde entsandt, um die gute Moral zu vervollkommnen." Dies ist nicht die wahre Bedeutung. Jeder, der eine neue Schule einführt, behauptet, dass das, was er lehrt, richtig ist. Selbst Nietzsche, der an Macht glaubte und kein

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Mitleid für den Schwachen hat, erachtete seine Lehre als eine der wahren Ethik. Mit den Worten des Propheten ist Vortrefflichkeit gemeint, nicht Herrschaft über andere.

7Ali (a.s.) sagte zu seinem Sohn Husayn (a.s.): „Erhebe deinen Geist über jede niedrige Tat, und denke, dass dein Geist zu wertvoll ist um durch Niedrigkeit verschmutzt zu werden." Er rät seinem Sohn, sich selbst für zu edel zu halten, als sich durch Lügen zu demütigen oder sich vor anderen zu erniedrigen.

In der NahJu-l-Balaga wird gesagt, dass beim ersten Zusammentreffen von 7Ali (a.s.) mit Mu7awiya bei Siffin der Imam nicht kämpfen und stattdessen die Angelegenheit durch Briefe und Gesandte klären wollte. Doch als Mu7awiya den Zugang zu den Gewässern des Euphrat versperrte, um 7Alis Armee durch den Wassermangel eine Niederlage zuzufügen, schrieb er einen Brief, in dem er Mu7awiya aufforderte, von einer solche Strategie abzulassen, da das Kämpfen noch nicht begonnen habe und die Möglichkeit einer Einigung bestehe.

Mu7awiya lehnte es ab, seinen Vorteil aufzugeben, und als 7Ali feststellen musste, dass sein Beharren nutzlos war, sammelte er seine Leute um sich und sprach zu ihnen: „Diese Menschen suchen den Krieg wie Nahrung. Wenn ihr siegreich sterbt, seid ihr lebendig, doch wenn ihr unterlegen sterbt, seid ihr tot."

Dies ist die Art und Weise, wie 7Ali (a.s.) den Geist der Vortrefflichkeit und den Respekt vor sich selbst in seinen Anhängern inspirierte. 7Ali (a.s.) glaubt, dass alle Sünden durch die Niedrigkeit des Charakters verursacht werden. Er denkt zum Beispiel, dass Verleumden die Tat einer schwachen Person ist. Ein tapferer Mensch ist so edel und großmütig, dass er die Einwände, die er gegen jemanden vorzubringen hat, diesem direkt ins Gesicht sagt oder zumindest ruhig bleibt. Jemand, der sich anderen gegenüber begierig verhält, macht das Selbst verächtlich. Jemand, der sein Unglück vor anderen lamentierend vorträgt, erniedrigt das Selbst.

Jemand kam zu Imam Sadiq (a.s.) und wehklagte über seinen Kummer und seine Armut. Der Imam bat einen der Anwesenden, ihm einige Geldstücke zu geben. Der Mann sagte als Entschuldigung zu dem Imam: „Ich hatte nicht vor, um irgendetwas zu bitten." Der Imam sagte: „Ich habe nicht gesagt, dass du das getan hast, doch mein Ratschlag für dich ist, dass du davon absiehst, deine Schwierigkeiten anderen zu erzählen, denn du verlierst deinen Wert, und der Islam möchte nicht, dass ein Gläubiger vor anderen erniedrigt wird."

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7Ali (a.s.) sagte: „Derjenige, der seine Hilflosigkeit anderen beschreibt, zerstört seine Selbstachtung und seine Ehre, was die teuersten Dinge sind für einen Gläubigen. Und derjenige, der sich von seinen fleischlichen Gelüsten beherrschen lässt, erniedrigt sich selbst." 7Ali (a.s.) glaubte, dass alle Tugenden auf der Vortrefflichkeit des Geistes beruhen. Aufrichtig, anständig, standhaft zu sein und alle Sünden zu vermeiden sind das Ergebnis dieser Vortrefflichkeit. Um ein Beispiel zu geben: Trinken verursacht Betrunkenheit, und zeitweise wird einer seines Verstandes beraubt und auf die Ebene eines unverständigen Tieres reduziert.

7Ali (a.s.) sagte auch: „Ich gründe mein Leben nicht auf Ausschweifung." Die Lehren unserer Gnostiker und Sufis haben viele erhabene Gedanken. Doch eines der Probleme, die der Islam durch die Lehren der Gnostiker und Sufis erlitten hat, war, dass sie beeinflusst waren von den Lehren des Christentums, Buddhismus und Manichäismus. Sie haben die richtige Ausgewogenheit verloren in dem, was sie als Selbstvergessenheit und Vernichtung des Selbst bezeichnen. Wenn sie dem Islam Aufmerksamkeit geschenkt hätten, hätten sie erkannt, dass der Islam für das Vernichten eines Aspektes der Seele und für die Wiederbelebung eines ihrer anderen Aspekte ist. Er rät dem Menschen, sein animalisches Selbst zu vergessen und seinen edlen Charakter zu stärken.

Der Islam lehrt, dass es eine göttliche Bestrafung ist, dass der Mensch dazu gebracht wird, das Selbst insgesamt zu vergessen. Der Qur'an sagt: „ Und seid nicht gleich jenen, die Allah vergaßen und die er darum ihre eigenen Seelen vergessen ließ..." (Sure al-Hapr, Vers 19). 7Ali (a.s.) forderte die Menschen auf, der Welt zu entsagen, doch zur gleichen Zeit betonte er die Selbstachtung und geistige Größe. Er sagte zu seinem Sohn Hasan (a.s.): „Sei nicht der Sklave eines anderen Geschöpfes. Gott hat dich frei erschaffen." Wie kommt es, dass 7Ali (a.s.) die Menschen einlädt, das Selbst zu beobachten? Dieses Selbst, das er beobachtet, ist die edle Seite der Menschheit.

Wir haben viele Sprüche dieser Art von 7Ali (a.s.), doch nur wenige Zitate von seinen beiden Söhnen, was aus den despotischen Bedingungen ihrer Zeit resultiert. Doch in den Büchern, die die Aussprüche von Imam Husayn (a.s.) beinhalten, kommt die Frage nach der Begrenztheit des Geistes immer wieder vor, insbesondere in seinen Aussprüchen in den letzten Augenblicken vor seinem Märtyrertod, in denen er jene anklagt, die sich den Tyrannen verkauft haben. Er sagt: „Wenn ihr nicht gläubig seid und die Auferstehung nicht fürchtet, dann seid zumindest freie Menschen in eurer Welt." In einer

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Rede in Mekka sagte er, dass sein Geist es ihm nicht erlaube, zu leben und derartige korrupte Bedingungen zu sehen, geschweige denn, ein Teil davon zu sein. Er sagte: „Wahrlich, ich sehe im Tod nichts anderes als Glückseligkeit und im Leben mit diesen Tyrannen nichts anderes als Elendigkeit."

Denjenigen, die ihm geraten haben, seinen Kampf gegen die Tyrannen aufzugeben, zitierte er den Satz eines Gefährten des Propheten, der seinem Cousin, der ihn vom Kämpfen abhalten wollte, antwortete: „Nein, ich werde vorwärts gehen. Der Tod ist keine Schande, sondern eine Ehre für einen freien Menschen, dessen Absicht es ist, dem rechten Weg zu folgen und einen heiligen Krieg zu kämpfen. Der Tod beim Unterstützen des Guten und Widerstand gegen das Schlechte ist eine Ehre." Und Husayn (a.s.) fuhr fort: „Siehst du nicht, dass sie nicht nach dem handeln, was gut ist und niemand all diese Verworfenheit verbietet?" Und er sprach: „Ein Gläubiger muss nach dem Tod streben."

Am Tag seines Märtyrertodes gab Imam Husayn diese Antwort an den Botschafter von Ibn Ziyad, der das Treuegelöbnis forderte: „Ich werde niemals meine Hand der Demütigung anbieten noch mich wie ein Sklave bekennen." Selbst in den letzten Augenblicken des Kampfes, als alle seine Verwandten und Gefährten starben, seine weiblichen Angehörigen vor der Gefangennahme standen und er selbst dem Tode entgegensah, fuhr er fort, seine erhabenen Ziele der Vortrefflichkeit und der Freiheit zu verkünden.

Wir sehen also, dass alle großen Menschen nicht vortrefflich sind, aber alle vortrefflichen Menschen groß sind. Imam Husayn (a.s.) war groß in seinen guten Taten, seiner Gleichgültigkeit gegenüber dem Besitz, seinen Anstrengungen für das Gebieten des Guten und das Verwehren des Schlechten, in seinem Mangel an Ehrgeiz und Rachsucht, in seinem Beharren im Gebet und seiner Verbindung mit Gott und seiner Wiederbelebung des vortrefflichen Selbst in der Anstrengung für Gott und für die Wahrheit.

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5. Gottesdienst und Gebet

Manchmal stoßen wir in den islamischen Interpretationen im Zusammenhang mit Gottesdienst auf Punkte, die bei einigen von uns Fragen aufwerfen. Es wird uns beispielsweise berichtet, dass der Prophet (s.a.s.) oder die Ima-me in Bezug auf das Gebet gesagt haben, dass das „Gebet die Säule der Religion" ist, oder, wenn wir uns die Religion als Zelt vorstellen, dass das Gebet die Stange ist, die das Zelt trägt.

Diese Bemerkung ist den Überlieferungen entnommen, die dem Propheten zugeschrieben werden. „Das Erfordernis für die Annahme anderer Taten ist die Annahme des Gebetes. " Mit anderen Worten: die guten Taten des Menschen werden null und nichtig sein, wenn sein Gebet nicht richtig und deshalb nicht annehmbar ist. Eine andere Überlieferung lautet: „ Gebet ist das Mittel eines jeden tugendhaften Geschöpfes, um Nähe zu Gott zu erlangen. " In einer weiteren Überlieferung heißt es, dass es dem Teufel bei einem Gläubigen immer unbehaglich ist und er sich von demjenigen fernhält, der sich seinem Gebet widmet. Auch der Qur'an bringt die Wichtigkeit des Gebetes in vielen Versen zum Ausdruck.

Doch zuweilen wird von manchen Menschen gesagt, dass alle diese Überlieferungen bezüglich des Gebetes gefälscht und unverlässlich sein müssen und nicht vom Propheten und seinen Nachfolgern, sondern von einigen Gläubigen geäußert wurden, die insbesondere im 2. und 3. Jahrhundert nach der HiJra, als die Gottesverehrung zu solchen Extremen wie Mönchstum und Sufismus geführt hatte, mehr Anhänger gewinnen wollten.

Wir sehen, dass einige Leute alle ihre Anstrengung in einem solchen Ausmaß auf gottesdienstliche Werke konzentriert haben, dass sie andere religiöse Pflichten ignorierten. Es gab z. B. unter den Gefährten 7Alis (a.s.) einen Mann namens Rabi7 ibn Husayn. Er galt als einer der acht bekannten Asketen der islamischen Welt, und er führte seine Askese und seine Andacht so weit, dass er lange vor seinem Tod sein Grab gegraben hatte. Es wird gesagt, dass er zwanzig Jahre lang kein Wort über weltliche Angelegenheiten fallen ließ. Manchmal ging er zu der Grabstelle und legte sich hinein und besann sich darauf, dass das Grab sein Heim war. Die einzigen Worte, die man außer Gebeten jemals von ihm hörte, betrafen die Ermordung Imam Husayns (a.s.). Als er davon hörte, sagte er: „Wehe diesen Leuten, die die lieben Nachkommen ihres Propheten ermordet haben." Es wird berichtet, dass er danach bereute, etwas anderes als eine Anrufung Gottes geäußert zu haben.

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Eines Tages kam er zu Imam 7Ali (a.s.) und sagte, dass er Zweifel habe bezüglich des Kampfes, den sie führten; er erschien ihm unrecht, weil sie gegen jene kämpften, die sich in ihren Gebeten gen Mekka wandten. Dieser Mann wollte sich zur gleichen Zeit jedoch nicht von 7Ali (a.s.) lossagen, und deshalb bat er ihn, ihm eine Aufgabe zu übertragen, in der für ihn keinerlei Zweifel bestünden.

7Ali (a.s.) erklärte sich damit einverstanden und schickte ihn als Soldat an eine Grenze, wo er sich im Falle eines Kampfes Nichtmuslimen oder Götzendienern gegenüber sehen würde. Dieser Mann war ein Asket jener Zeit, doch welchen Wert hatten seine Askese und seine Gottesverehrung? Es ist nutzlos, Anhänger eines Menschen wie 7Ali (a.s.) zu sein und zur gleichen Zeit den Weg, den er in einem Kampf wies, zu bezweifeln.

Der Islam fordert Einsicht in Verbindung mit Praktizierung, doch Rabi7 hatte keine Einsicht. Er lebte zu Zeiten Mu 3awiyas und dessen Sohn Yazid. Er hatte nichts zu tun mit den sozialen Problemen der islamischen Gesellschaft und gewöhnlich zog er sich Tag und Nacht zum Gebet in eine Ecke zurück, wo er nichts anderes äußerte als den Namen Gottes und Bedauern wegen seiner eigenen Bemerkung über den Märtyrertod von Imam Husayn

(a.s.).

Eine solche Verhaltensweise stimmt nicht mit den islamischen Lehren ü-berein, wie auch in folgendem Ausspruch zum Ausdruck kommt: „Ein unwissender Mensch geht entweder zu schnell oder zu langsam." Einige sagen vielleicht, dass der Ausspruch „Das Gebet ist der Pfeiler der Religion" nicht mit den islamischen Lehren übereinstimmt, da der Islam sozialen Angelegenheiten eine größere Aufmerksamkeit beimisst als anderen. Der Islam sagt: „Allah gebietet Gerechtigkeit und uneigennützig Gutes zu tun... " (Sure 16, Vers 92) und „Wahrlich, wir schickten unsere Gesandten mit klaren Beweisen und sandten das Buch und das Maß herab, auf dass die Menschen Gerechtigkeit üben möchten..." (Sure 57, Vers 26). Er forderte die Menschen auf, das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verwehren... (vgl. Sure 3, Vers 110). Solche Leute bringen vor, dass der Islam für Aktivität und Handeln eintritt. Sie sagen, wenn Aktivität und Handeln wichtige Angelegenheiten im Islam sind, dann sind Anbetung und Verehrung nicht so bedeutend. Deshalb sollte man ihrer Meinung nach sozialen Lehren folgen und Gottesverehrung und -anbetung jenen Menschen überlassen, die keine andere Aufgabe zu erfüllen haben.

Doch solche Gedanken sind falsch und sehr gefährlich. Der Islam sollte so erkannt werden wie er ist. Ich betone diesen Punkt, denn ich fühle, dass un-

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sere Gesellschaft an einer Krankheit leidet. Unglücklicherweise gehören jene, die religiösen Eifer haben, zwei Gruppen an: Eine Gruppe folgt dem Weg Rabi7s und sieht im Islam nur ein Glaubensbekenntnis mit Gebeten, Lobpreisungen und Pilgerfahrt, und sie greift auf einige theologische Standardwerke zurück, die sie führen soll. Sie hat nichts zu tun mit der Welt oder sozialen Verpflichtungen oder islamischen Prinzipien und islamischer Erziehung.

Die Reaktion auf die Langsamkeit dieser Gruppe ist das Erscheinen einer zweiten Gruppe, die sich schnell vorwärts bewegt und den Weg des Übermaßes beschreitet. Sie richtet ihre gesamte Aufmerksamkeit auf soziale Angelegenheiten, was für sich gesehen eine wertvolle Haltung ist, doch sie ignoriert die gottesdienstlichen Handlungen. Ich habe Menschen getroffen, die es sich einfach leisten können, eine Pilgerfahrt nach Mekka zu machen, ein Gebot, das im Islam als eine wichtige Angelegenheit angesehen wird. Sie missachten Gebete und lassen auch das Prinzip des Taqlid außer Acht. Sie sind der Meinung, dass Probleme in Bezug auf die gottesdienstlichen Handlungen von jedem selbst gelöst werden sollten, ohne dass es dazu der Führung durch andere bedarf. Sie halten somit jeden für einen Experten in religiösen Fragen oder für einen Rechtsgelehrten. Ebenso verhielte es sich, wenn jeder sein eigener Arzt wäre und bei einer Erkrankung keinen Doktor oder Spezialisten aufsuchen müsste. Es gibt einige, die bezüglich des Fastens und den damit verbundenen Bedingungen während eines dauerhaften Aufenthaltes oder einer Reise unachtsam sind, und sie glauben nicht an die Wiedergutmachung des Versäumens, die gottesdienstlichen Handlungen zur angemessenen Zeit und am richtigen Ort zu verrichten.

Beide Gruppen sehen sich selbst als Muslime an, doch sie sind es ganz und gar nicht. Der Islam erkennt die Phrase „an einige Dinge zu glauben und an einige andere Dinge nicht"9 nicht an. Er kann eine Akzeptanz der gottesdienstlichen Handlungen verbunden mit der Ablehnung seiner Moral und sozialen Anliegen oder umgekehrt nicht anerkennen. Im Qur'an sehen wir immer wieder, dass die Aufforderung „ Verrichtet eure Gebete " gefolgt wird von „...und entrichtet eure Zakat... "10

Das erste Gebot betrifft die Beziehung zwischen einem Geschöpf und Gott und das zweite zeigt die Beziehung zwischen einem Geschöpf und anderen Geschöpfen. Somit hat ein wahrer Muslim dauerhaft eine doppelte Verant-

9 Vgl. Sure al-Nisa', Vers 15.

10 Vgl. Sure al-Baqara, Vere 43 und 177; Sure al-Ma'ida, Vers 55.

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wortung gegenüber Gott und gegenüber den Mitmenschen und seiner Gesellschaft. Es kann keine islamische Gesellschaft ohne Gottesdienst und -anbetung, Gebete und Fasten geschaffen werden. Auf die gleiche Weise kann keine fromme Gesellschaft existieren, ohne das Gute zu gebieten und das Schlechte zu verwehren und ohne freundliche Beziehungen zwischen den Individuen.

Wir sehen 7Ali (a.s.) als einen frommen Menschen an, dessen Gottesverehrung sprichwörtlich war, - eine Gottesverehrung voll von Liebe und Tränen. Nach seinem Tod traf einer seiner Gefährten, ein Mann namens Zirar, Mu7awiya, der ihn aufforderte, 7Ali zu beschreiben. Zirar erzählte etwas, was er selbst erlebt hatte. Er berichtete, dass er ihn eines Nachts an seinem ganz speziellen Gebetsplatz sah. Er wand sich aus Gottesfurcht wie ein Mann, der von einer Schlange gebissen wurde, und weinte aus tiefer Sorge wegen dem Feuer der Hölle. Mu7awiya weinte, als er dies hörte.

Vor 7Alis (a.s.) Tod traf Mu7awiya 3Addas bin Hatam und hatte die Absicht, ihn gegen 7Ali (a.s.) aufzubringen. Deshalb fragte er ihn nach seinen drei Söhnen, die im Kampf auf der Seite 7Alis (a.s.) gestorben waren. Er wollte 3Addas 7Ali (a.s.) anklagen hören, und deshalb sagte er: „War es gerecht von ihm, dass er dich deiner drei Söhne beraubt hat und seine eigenen Söhne vor dem Tod auf dem Schlachtfeld geschont hat?"

3Addas antwortete: „Ich war es, der ihm gegenüber ungerecht war. Ich sollte nicht am Leben sein, da er in der Erde begraben liegt." Als Mu7awiya erkannte, dass er sein Ziel nicht erreicht hatte, bat er 3Addas, ihm 7Ali (a.s.) gänzlich zu beschreiben, was dieser tat. Als er seinen Bericht beendet hat, bemerkte er, dass Mu7awiya sich Tränen wegwischte und sprach: „Ach! Die Zeit ist zu unfruchtbar, um einen Menschen wie 7Ali hervorzubringen." Dies macht deutlich, wie die Wahrheit sich selbst offenbart.

Doch war 7Ali (a.s.) nur ein frommer Mensch des Altars? Nein. Wir sehen auch, dass er der sozialste Mensch war, der sich der Lebensumstände der armen und hilflosen Menschen und all jener, die ihre Klagen bei ihm vorbrachten, bewusst war. Obwohl er ein Kalif war, ging er unter die Menschen und befasste sich mit ihren Angelegenheiten. Wenn er Händler traf, rief er: „Ihr solltet zunächst die islamischen Vorschriften des Handels kennen lernen." Mit anderen Worten: bevor sie sich mit Handel befassen, sollten sie die göttlichen Vorschriften über das, was beim Handel erlaubt und was unerlaubt ist, kennen. Es wird von 7Ali (a.s.) auch berichtet, dass er einen armen Bettler, der ihn um etwas bat, anschaute, und als er sah, dass dieser fähig war, zu arbeiten, es aber vorgezogen hatte, geschäftsmäßig zu betteln, ihm

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einen Rat gab und sagte: „Folge deiner Ehre und Würde" - einen Satz, den er an jeden Menschen richtete; denn Arbeit bringt Würde und Ehre.

7Ali (a.s.) ist somit ein wahrer Muslim: fromm in der Gottesverehrung, ein gerechter Richter bei Gericht, ein tapferer Soldat und Befehlshaber auf dem Kampfplatz, ein hervorragender Redner auf der Kanzel, ein bemerkenswerter Lehrer und ein wunderbares und perfektes Beispiel in jeder anderen Fertigkeit.

Der Islam kann niemals eine halbherzige Annahme seiner Vorschriften oder den Glauben an einige von ihnen und das Verwerfen anderer billigen. Das ist ein falscher Weg, der von einigen Asketen angenommen wurde, die den Islam nur aus Beten bestehend ansahen oder von jenen, die die Akte der Gottesverehrung insgesamt missachteten.

Der Qur'an sagt: Muhammad ist der Gesandte Allahs. Und die mit ihm sind, hart sind sie wider die Ungläubigen, doch gütig gegeneinander... " (Sure 48, Vers 29).

In diesem Satz wird die Besonderheit der islamischen Gesellschaft porträtiert. Im ersten Teil kommt das Befolgen des Glaubens und des Propheten zum Ausdruck und im letzten Teil die Tatsache, den Ungläubigen entschlossen zu begegnen. Somit sind jene scheinbar Andächtigen, die eine Moschee zu ihrem zu Hause machen und kein Wort sagen, wenn sie von einem einzigen Soldaten getrieben werden, keine Muslime. Die wichtigste Eigenschaft eines Muslims ist gemäß dem Qur'an, dass er gegenüber einem Feind Stärke und Entschlossenheit zeigt.

Der Qur'an sagt: „Ermattet nicht und trauert nicht; ihr werdet sicherlich die Oberhand behalten, wenn ihr Gläubige seid." (Sure 3, Vers 139). Der Islam lässt Schwäche im Glauben nicht zu. Will Durant sagt in seiner Geschichte der Zivilisation, dass keine andere Religion als der Islam seine Anhänger aufruft, so stark und standhaft zu sein.

Den Kopf in Hilflosigkeit sinken zu lassen, sich in ärmlicher oder sogar schmutziger Weise zu kleiden, träge zu gehen und so zu tun, als sei man hilflos und gleichgültig gegenüber allem um einen herum, Seufzen und Ächzen ist alles dem Islam entgegengesetzt. Der Qur'an sagt: „Und erzähle von der Gnade deines Herrn... " (Sure 93, Vers 11). Gott hat den Menschen Segnungen zuteil werden lassen wie z. B. Gesundheit und Stärke. Warum zeigt man sich selbst so hilflos? Das ist Undankbarkeit. 7Ali (a.s.) war niemals ein solcher Mensch. Er stand fähig und stark den Feinden gegenüber.

Was ist mit der Freundlichkeit gegenüber anderen? Manchmal begegnen wir Gläubigen, die niemals freundlich und gewöhnlich mürrisch und unge-

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sellig sind. Sie lachen niemals und lächeln nur selten, als wäre die gesamte Menschheit in ihrer Schuld, und dennoch meinen sie, dem Islam verbunden zu sein. Reicht es aus, den Feinden gegenüber entschlossen und zu den Muslimen freundlich zu sein? Die Antwort ist nein.

Im Qur'an heißt es: „...Du siehst sie sich beugen, sich niederwerfen im Gebet, Huld erstrebend von Allah und (Sein) Wohlgefallen... " (Sure 48, Vers 29). Hier ist die Rede von denjenigen, die über die beiden zuvor genannten Eigenschaften der Standhaftigkeit und Freundlichkeit verfügen, und die in ihren Gebeten und Niederwerfungen so tief in ihre Hingabe versinken, dass man in ihren Gesichtern alle Zeichen der Reinheit und Göttlichkeit erkennen kann.

Es wird vom Propheten (s.a.s.) erzählt, dass die Schüler Christi diesen fragten, wessen Gesellschaft sie suchen sollten, und er antwortete: „Die Gesellschaft desjenigen, dessen Erscheinung euch an Allah erinnert, dessen Worte euer Wissen vermehrt und dessen Taten euch davon überzeugen, Gutes zu tun." Und er zitierte den Vers: „...Das ist ihre Beschreibung in der Thora. Und ihre Beschreibung im Evangelium...." (Sure 48, Vers 29). Ein Volk, dass alle zuvor genannten Eigenschaften hat, muss ein bemerkenswertes Volk sein. Nun sagt mir, warum sollten Muslime so dekadent, willig und schlecht sein. Welche der zuvor genannten Eigenschaften besitzen wir? Was sollten wir erwarten? Obwohl wir zugestehen, dass der Islam ein soziales Glaubensbekenntnis ist, warum sollten wir Gottesdienst, Gebete und die Gemeinschaft mit Gott verachten? Lassen Sie mich Ihnen versichern, dass die Gebete leicht zu nehmen eine Sünde ist wie auch ihre Missachtung eine Sünde ist.

Nach dem Tode von Imam ja7far as-Sadiq (a.s.) kam Abu Basir zu Umm ul-Hanida um ihr sein Beileid auszusprechen. Beide weinten. Dann erzählte Umm ul-Hanida etwas, was sich in den letzten Minuten des Lebens des I-mam ereignet hatte. Sie sagte, dass er in eine Trance verfiel und dann seine Augen öffnete und um die Anwesenheit all seiner Verwandten bat. Nachdem sie sich alle dort versammelt hatten, richtete der Imam folgende Worte an sie und starb dann. Er sagte: „Jene, die das rituelle Gebet auf die leichte Schulter nehmen, werden niemals unsere Fürsprache erlangen." Er sprach nicht von jenen, die die Gebete insgesamt nicht beachten, denn die Konsequenz davon ist offensichtlich. Was bedeutet „die rituellen Gebete auf die leichte Schulter nehmen"? Es bedeutet, dass man sie hinauszögert, obwohl man Zeit und Gelegenheit hätte, sie zu verrichten, und im letzten Moment, bevor die Zeit vorüber ist, die Gottesdienste mit Hast und mechanisch verrichtet, ohne

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Gemüt und Geist die nötige Ruhe zu geben, bevor man mit dem rituellen Gebet beginnt.

Die Erfahrung hat gezeigt, dass in einer Familie, in der die rituellen Gebete leicht genommen werden, ihre Mitglieder kein Interesse zeigen, zu beten oder richtig zu beten. Man sollte eine Stelle im Haus oder wenn möglich ein eigenes Zimmer auswählen und für die Verrichtung der Gottesdienste bestimmen, die rituelle Waschung ohne Eile durchführen, einen sauberen Gebetsteppich ausbreiten und alle vorbereitenden Handlungen mit der Anrufung Gottes begleiten. 7Ali (a.s.) begann mit „Im Namen Gottes und mit der Hilfe Gottes. O Gott, lasse mich zu jenen gehören, die bereuen; lasse mich zu jenen gehören, die sich selbst reinigen."

Den Körper zu waschen ist die Vorbereitung für die Reinigung des Geistes; es erfrischt das Gesicht, doch da die Absicht auch die Reinigung des Geistes ist, vermittelt es einen heiligen Aspekt. 7Ali (a.s.) betete während seiner Waschung zu Gott, sein Gesicht am Tag der Auferstehung, an dem viele Gesichter schwarz sind vor Schande und Sünde, zu erhellen. Dann sprach er dieses Gebet beim Waschen der rechten Hand: „Oh Gott, lege das Buch meiner Taten am Tag der Auferstehung in meine rechte Hand". Beim Waschen seiner linken Hand sagte er. „O Gott, gib mir das Buch meiner Taten nicht in die linke Hand noch von hinter meinem Rücken hervor. O Gott, lasse es nicht an meinen Nacken gefesselt sein. Ich suche Zuflucht bei dir vor dem Feuer der Hölle." Während er sein Gesicht mit Wasser benetzte, sagte er: „Schließe mich in deine Gnade und Segnungen ein". Während des Berührens seiner Füße mit Wasser sagte er: „O Gott, lenke meine Anstrengungen zu einem Weg deiner Zufriedenheit".

Eine solche rituelle Waschung, die von so vielen Flehen begleitet ist, hat einen anderen Wert und Verdienst als das, was die meisten von uns zu tun gewöhnt sind. Wir sollten diese Rituale nicht leichtfertig missachten und uns nicht nur auf die absolut verpflichtenden Teile beschränken.

Wir wollen nun sehen, was religiöse Autoritäten zu dieser Frage sagen. Sollten wir den Satz „Preis sei Gott, und Lobpreisung gebührt nur Gott, und es gibt keinen Gott außer Gott, und Gott ist größer" dreimal sagen oder nur einmal? Eine Autorität kann beispielsweise sagen „Einmal ist genug, da es verpflichtend ist, doch die zweite und dritte Wiederholung sind empfohlen." Sollten wir uns auf der Grundlage dieses Urteils darauf beschränken, dieses Gebet nur einmal zu sprechen?

Auf die gleiche Weise kann das Fasten leicht genommen werden. Ich kenne einige Leute, die im Monat Ramawan in der Nacht wach bleiben, aber

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nicht um zu beten und Gott zu verehren, sondern um zu trinken, zu rauchen und zu essen. Am Morgen sagen sie ihre rituellen Gebete und legen sich schlafen. Einige von ihnen schlafen den ganzen Tag hindurch und stehen erst kurz vor dem Sonnenuntergang wieder auf, um ihre rituellen Gebete in Hast zu sagen, bevor es zu spät ist, und sich vorzubereiten, ihr Fasten zu brechen. Was für eine Art von Fasten ist das, wenn man sich selbst nicht die Gelegenheit gibt, die Anstrengung der Enthaltsamkeit zu fühlen?

Ein weiteres Beispiel: Wir gehen nach Mekka, doch verrichten unsere Rituale leichtfertig wie unsere Gebete und unser Fasten. Ähnlicherweise kann auch der Gebetsruf leicht genommen werden. Es wird gesagt, dass der Gebetsruf melodisch durchgeführt werden soll, um die Menschen anzuziehen und zum Gebet einzuladen, auf die gleich Weise wie der Qur'an klar, fließend und mit einer schönen Stimme rezitiert werden sollte. Einige Menschen sind mit einer schönen Stimme gesegnet, doch wenn man sie bittet, zum Gebet zu rufen, erachten sie es als unter ihrer Würde, als Muezzin angesehen zu werden. Doch es ist vielmehr eine Ehre, einer zu sein. 7Ali (a.s.) selbst war einer, auch als er Kalif war.

Keine gottesdienstliche Handlung sollte also leicht genommen werden. Der Vorzug des Islam liegt darin, dass er alles umfasst und nicht darin, dass er so mit Gottesdienst beschäftigt ist, dass jede andere Aufgabe missachtet wird, noch dass er so sehr mit sozialen Angelegenheiten befasst ist, dass die gottesdienstlichen Handlungen vergessen werden. Obwohl ein Gebet einem selbst und der Annäherung zu Gott nutzt, missachten wir auch unsere Pflichten, wenn wir den Gottesdienst verachten. Gottesdienst ist die Ausführung und Garantie anderer islamischer Verpflichtungen.

Wahrlich, das Gebet hält ab von Schändlichkeiten und Unrecht; und an Allah denken ist gewiss die höchste (Tugend). " (Sure 29, Vers 45).

Im Islam sind Handlungen der Gottesverehrung zusätzlich zu ihrer Auszeichnung ein Teil des Erziehungsprogramms. Wahrhaftigkeit ist ungeachtet der vielfältigen Angelegenheiten des menschlichen Lebens in jeder anderen Hinsicht ein Ziel der Schöpfung. Der Qur'an sagt: „ Und ich habe die Dschinn und die Menschen nur darum erschaffen, dass sie mir dienen. " (Sure 51, Vers 58).

Gottesdienst ist ein Mittel für den Menschen, um Nähe zu Gott wie auch wahre Vollkommenheit zu erlangen. Das bedeutet, dass das, was die Manifestation der menschlichen Vollkommenheit ist, zur gleichen Zeit auch ein Ziel an sich ist. Das Individuum soll moralisch und sozial erzogen werden, und deshalb wurde ein Mittel angenommen, das im Hinblick auf die Moral

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und den Geist des Menschen sehr effektiv ist. Es versetzt den Menschen in die Lage, das Selbst und die eigenen Interessen zu vergessen.

Bei sozialen Angelegenheiten ist Gerechtigkeit das Grundprinzip, d. h. das Respektieren der Rechte der anderen. Das ist die Hauptschwierigkeit der Menschheit, sowohl was die Moral als auch was die Gesellschaft anbelangt. Es gibt niemanden, der nicht von der Moral und ihrer Notwendigkeit weiß; die Schwierigkeit liegt darin, sie zu praktizieren. Wenn ein Mensch dieses Prinzip in die Tat umsetzen will, dann sieht er sich einerseits Interessen und andererseits Ethik gegenüber. Wahrhaftigkeit einerseits und Nutzen andererseits; man muss entweder auf Falschheit und Verrat zurückgreifen, um Nutzen zu ziehen, oder die Wahrheit sagen und auf den Nutzen verzichten. Hier sehen wir einen Menschen, der von Gerechtigkeit spricht und in der Praxis gegen die Moral und Gerechtigkeit handelt. Das einzige, was als Unterstützung für die Moral und Gerechtigkeit des Menschen dient und ihn in die Lage versetzt, auf den Nutzen zu verzichten, ist der Glaube. Glaube an was? An Gerechtigkeit und Moral an sich. Wenn ein Mensch sowohl an Gerechtigkeit wie auch an Moral als etwas Heiligem glaubt, wenn er an die Ursache der Heiligkeit, nämlich Gott glaubt, dann ist er im gleichen Maße wie er an Gott gebunden ist und an ihn glaubt, sowohl an Gerechtigkeit wie auch an Moral gebunden.

Das Problem unserer Zeit liegt darin, dass man annimmt, die Wissenschaft reiche für die Menschheit aus. Wenn wir Gerechtigkeit und Moral erkennen und ihnen gemäß handeln, können wir sowohl gerecht wie auch moralisch sein. In der Tat wurde jedoch gezeigt, dass von Glaube getrenntes Wissen nicht nur Gerechtigkeit und Moral nicht zuträglich ist, sondern es ist vielmehr schädlich; wie Sana7i, der Dichter, sagt: „Wenn ein Dieb ein Licht trägt, dann kann er mehr Dinge seiner Wahl nehmen." Doch Moral und Gerechtigkeit mit Glaube werden fortbestehen. Im Islam ist der Gottesdienst nichts, was von Moral und Gerechtigkeit getrennt ist.

Um diesen Punkt zu verdeutlichen, wollen wir einer Frage nachgehen. Wo in der Welt gibt es einen schuldigen Menschen, der sich freiwillig meldet, um bestraft zu werden? Ein schuldiger Mensch flieht in der Regel vor der Gerechtigkeit. Die einzige Kraft, die den Menschen dazu bringen kann, sich freiwillig der Bestrafung zu unterwerfen, ist der Glaube. Wir sehen in der Frühzeit des Islam viele Beispiele dafür. Der Islam sieht für alle Sünden wie z. B. Trinken, Diebstahl etc. Bestrafung vor. Zur gleichen Zeit legt er fest, dass Bestrafungen beim geringsten Zweifel aufgehoben werden. Der Islam zwingt einen Richter oder Herrscher nicht, eine schuldige Person herauszu-

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finden; vielmehr schafft er einen Zwang in der schuldigen Person, sich zu offenbaren und die Bestrafung anzunehmen. So etwas kam zu Lebzeiten des Propheten (s.a.s.) und Imam 7Alis (a.s.) häufig vor. Menschen kamen zu ihnen und baten darum, bestraft zu werden um sich zu läutern.

Der Zweck des Gottesdienstes ist die Wiederbelebung des religiösen Lebens, ihm Frische und Stärke zu verleihen. Je größer der Glaube ist und je mehr man sich Gott zuwendet, desto weniger sündigt man. Sünden begehen oder keine Sünden begehen hat nichts mit Wissen zu tun; hierbei geht es um den Glauben, und den Glauben zu vernachlässigen führt zur Sündhaftigkeit.

Lassen Sie mich einen Punkt über die Unfehlbarkeit der Propheten und Imame erläutern. Was bedeutet Unfehlbarkeit? Man könnte sagen, sie begehen niemals eine Sünde. Das ist richtig, doch es gibt zwei Antworten auf diese Frage. Eine ist, dass Gott sie mit Absicht von Sünden fernhält. Wenn dies der Fall ist, dann ist Sündlosigkeit keine Leistung, denn dann könnte niemand sündigen, weil er von einer Macht, die hinter ihm steht, daran gehindert wird. Deshalb könnte man meinen, Propheten und Imame seien anderen Menschen nicht überlegen, ausgenommen die Tatsache, dass sie auf besondere Weise von Gott behandelt werden. Somit ist es keine Frage, ob sie sündigen, denn sie werden von Gott daran gehindert, das zu tun.

Reinheit ist eine hohe Stufe im Glauben an Gott und im ständigen Gottgedenken. Ein Mensch ohne Glauben denkt niemals oder nur selten an Gott; ein solcher Mensch ist insgesamt nachlässig. Es gibt andere, die zuweilen nachlässig sind und in diesem Zustand der Nachlässigkeit Sünden begehen, doch wenn sie sich Gott zuwenden, dann vermeiden sie natürlich Sünden. Wenn der Glaube jedoch einen vollkommenen Zustand des ständigen Gedenkens an Gott erreicht, wird ein Mensch niemals nachlässig sein, und jede Handlung dieses Menschen basiert auf Glauben.

Der Qur'an bezieht sich auf jene, die Handel treiben, doch niemals Gott vergessen. Er spricht nicht davon, Handel zu vermeiden; der Islam verbietet den Handel nicht. Im Gegenteil ermutigt er zur Arbeit und zu Geschäftsabschlüssen und zur gleichen Zeit erwartet er vom Menschen, an Gott zu denken und deshalb niemals zu sündigen.

Lassen sie mich ein Beispiel geben. Ist es Ihnen jemals passiert, dass sie Ihre Hand absichtlich ins Feuer gehalten haben? In der Regel geschieht das nicht, außer man wünscht sich zu verbrennen. Warum meiden wir Feuer? Weil unser Wissen uns lehrt, dass es gefährlich ist, und wir sind uns dieses Wissens sicher. Auf diese Weise dienen uns unsere Gewissheit und unsere Überzeugung von der Hitze des Feuers als eine Kontrolle.

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Auch die Freunde Gottes sind unschuldig, weil sie sich der brennenden Kraft von Sünden gewiss sind, und somit versetzt sie das Denken an Gott und die Bindung an Moral, Gerechtigkeit und das Rechte in die Lage, Sünden zu vermeiden. Im Islam ist das Leben beider Welten miteinander verbunden. Das Christentum andererseits trennt die Berechnung jeder Welt. Der anderweltliche Aspekt des islamischen Gebetes ist beispielsweise das Gedenken Gottes und die Gottesfurcht, denn warum wären ansonsten so viele Riten nötig? In beiden rein zu sein macht keinen Unterschied für Gott in der Nähe zu ihm, denn er sagt: „... Wenn ihr zum Gebet hintretet, waschet euer Gesicht und eure Hände bis zu den Ellbogen und fahrt euch über den Kopf und eure Füße bis zu den Knöcheln... " (Al-Ma'ida, Vers 6).

Sauberkeit wurde mit Handlungen der Gottesverehrung verbunden. Der Platz zum Gebet muss legitim und nicht widerrechtlich angeeignet sein. Ebenso muss es sich mit dem Gebetsteppich und der Kleidung verhalten. Wenn ein einziger Faden davon illegitim erworben wurde, dann ist das Gebet null und nichtig. Wiederum muss Gottesverehrung verbunden werden mit der Respektierung der Rechte der anderen. Wenn ein Haus mit Gewalt erworben wird, dann ist das Gebet darin ungültig für denjenigen, der die Rechte des Besitzers verletzt hat. Ein solches Haus müsste entweder vom letzteren gekauft worden sein, so dass seine Gottesverehrung korrekt wäre, oder er hätte sich zunächst des Einverständnisses des Besitzers versichern müssen. Das gleiche gilt in Bezug auf Kleidung und Teppiche. Hinzu kommt, dass wenn eine religiöse Abgabe auf den Besitz des Anbetenden fällig ist, diese gezahlt werden sollte.

Dann wird uns befohlen, dass wir uns beim Gebet in Richtung Ka7ba wenden (vgl. Sure Al-7Imran, Vers 96). Wo ist die Ka7ba? Es ist der erste Tempel, der in der Welt zur Anbetung Gottes gebaut wurde. Jeder sollte das rituelle Gebet verrichten, indem er in Richtung der ersten Moschee schaut, die von den Propheten Abraham und Ismail gebildet wurde. Warum sollten wir in diese Richtung schauen? Ist Gott da? Der Qur'an sagt: „...wohin immer ihr euch also wendet, dort ist Allahs Angesicht... " (Sure al-Baqara, Vers 115). Warum sollten wir alle in Richtung der Ka7ba blicken? In die gleiche Richtung zu blicken hat für die Muslime einen sozialen Erziehungseffekt, denn würde jeder in die Richtung schauen, die ihm selbst angenehm ist, dann würde dies Spaltung und Durcheinander bedeuten. Somit ist der Blick in Richtung der ersten Moschee Hingabe an Gott.

Wiederum wird uns gesagt, dass es eine bestimmte Zeit für die Anbetung gibt, sogar bis auf die Minute genau. Die Zeit für das Morgengebet ist zwi-

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schen Anbruch der Morgendämmerung und dem Sonnenaufgang, und wenn es nur eine Minute vor Anbruch der Morgendämmerung oder auch nur eine Minute nach Sonnenaufgang verrichtet wird, dann ist es ungültig. Man kann nicht die Entschuldigung vorbringen, man sei müde, denn dies hat keine Bedeutung für Gott, da für ihn alle Stunden gleich sind. Doch die mit der Beachtung der Zeit verbundene Absicht ist es, die Menschen zu erziehen. Die gleiche Pünktlichkeit gilt auch für Mittag-, Nachmittag- Abend und Nachtgebet.

Gebet und Gottesdienst sind untrennbar miteinander verbunden. Im Gebet kann man nicht tun, was man will, wie z. B. im Gedenken an etwas Unerfreuliches weinen oder aufgrund eines witzigen Zwischenfalls lachen. Gebet ist die Kontrolle der Gefühle. Es gibt kein Sichwenden zu irgendeiner Seite, sondern nur zu dem Punkt vor einem selbst, kein Blicken auf irgendetwas, was unsere Aufmerksamkeit anziehen könnte. Noch ist es erlaubt, während des Gebetes etwas zu essen oder zu trinken. Alle derartigen Ablenkungen stehen im Gegensatz zu dem Geist des Gottesdienstes, der totale Selbstkontrolle erfordert.

Ein anderer Punkt ist die Kontrolle des Körpers. Unnötige Bewegungen der Glieder beim Stehen, Niederbeugen und Niederwerfen sind nicht erlaubt. Der ganze Körper muss ruhig und fest stehen bevor der Satz „Allahu akbar" gesagt wird. Wenn man in einem Teil des Körpers Schmerzen verspürt, sollte man eine Weile in der Stellung verharren, bevor man mit dem Gebet fortfährt.

Nun kommen wir zu anderen Teilen des Gebets, was Aufmerksamkeit zu Gott allein bedeutet, und wir sagen den Satz „as-salamu 7alayna wa 7ala 7ibadi-llahi-s-salihin - Friede sei mit uns und mit den frommen Dienern Gottes." Dies ist eine Erklärung des Friedens und guten Willens gegenüber allen guten Geschöpfen. Es bedeutet, dass die Gottesanbetung vermischt wird mit erzieherischen Maßnahmen. In spirituellen Angelegenheiten, ist es umso besser, je mehr man das eigene Selbst vergisst, doch aus einer sozialen Perspektive gesehen, sollte man niemals die anderen vergessen.

In der ersten Sure des Heiligen Qur'an lesen wir: „Dir allein dienen wir, und zu dir allein flehen wir um Hilfe. " Hier gebrauchen wir nicht das Wort „Ich", sondern „Wir", um zu zeigen, dass alle Muslime in einer islamischen Gemeinschaft miteinander in Beziehung stehen. Im Islam wird „Ich" immer durch „Wir" ersetzt. All dies sind Lektionen, die gelernt werden müssen. Wenn wir „Allahu akbar" sagen, drücken wir dann unsere Furcht vor Gott aus? Es ist natürlich, dass der Mensch sich vor etwas fürchtet, was groß ist,

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sei es ein Berg, ein See oder eine mächtige Person. Doch wenn wir sagen „Gott ist größer" in einer überzeugten Art und Weise, kann uns niemand und nichts durch seine Größe fürchten, denn Gott ist größer als alles, was wir uns vorstellen können, und alle anderen Dinge sind im Vergleich zu ihm trivial.

Imam 7Ali (a.s.) sagt: „Gott hat sich selbst im Geist des wahren Gläubigen manifestiert, und somit erscheint alles andere, was sich nicht auf Gott bezieht, in seinen Augen klein."

Klein und groß sind natürlich relativ. Wenn man in einem kleinen Zimmer war und in eine große Halle kommt, wird die Halle sehr groß erscheinen; doch umgekehrt gilt das gleiche. Deshalb erachten jene, die mit der Größe Gottes bekannt sind, andere Dinge als unbedeutend. Sa7di sagt, dass für Mystiker nichts existiert außer Gott, und nur jene, die die Wahrheit verstehen, erkennen die Bedeutung seiner Worte, während andere ihn für diese Worte kritisieren. Er fragt dann: „Wenn nichts existiert außer Gott, was sind dann die Himmel und die Erde und Menschen und Monster und Bestien?" Er beantwortete diese Frage selbst, indem er sagt, dass alle diese Dinge zu klein sind, um zu sagen, dass sie im Vergleich mit Gottes Existenz existieren. Er vergleicht das dann mit einem Ozean und einem Tropfen Wasser und mit der Sonne und einem kleinen Teilchen.

Wenn man mit aller Aufrichtigkeit den Satz sagt „Gott ist größer", dann ist Seine Größe personifiziert und somit findet nichts anderes genug Bedeutung, das gefürchtet, dem geschmeichelt oder Demut gezeigt wird. Auf diese Weise bringt die Verehrung Gottes Freiheit; man wird der Diener Gottes, doch in jeglicher anderen Hinsicht frei. Jedes der folgenden Worte im rituellen Gebet hat eine Bedeutung, die Gottes Größe verdeutlicht: „Gott ist größer. Gelobt sei Gott. Lobpreisung gebührt Gott. Lobpreisung gebührt meinem großen Herrn, und ich lobpreise ihn. Lobpreisung gebührt meinem großen Herrn, und ich lobpreise ihn. Lobpreisung gebührt meinem Herrn, dem Höchsten, und ich lobpreise ihn."

Viele andere Sätze werden in den rituellen Gebeten gebraucht. Jemand fragte Imam 7Ali (a.s.), warum es in jeder Gebetseinheit zwei Niederwerfungen und nur eine Verbeugung gibt. Es ist natürlich offensichtlich, dass die Niederwerfung eine größere Demut zum Ausdruck bringt als die Beugung. Bei der Niederwerfung wird der Kopf, der der liebste Teil des Körpers ist, als ein Zeichen der Demut und der Anbetung auf die einfache Erde gelegt.

Als Antwort sagte Imam 7Ali (a.s.): „Bei der ersten Niederwerfung wirst du daran erinnert, dass du aus Staub entstanden bist, und bei der zweiten

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erinnerst du dich, dass du sterben und wieder zu Staub werden wirst, und indem du deinen Kopf ein weiteres Mal hebst, wirst du an den Tag denken, an dem du wieder auferstehen wirst für ein zukünftiges Leben." Im Zusammenhang mit der Bedeutung der täglichen Gebete sollte nicht unerwähnt bleiben, dass jeder von uns nicht nur für das eigene Darbringen der Handlungen des Gottesdienstes verpflichtet ist, sondern auch für die anderen Mitglieder des Haushaltes Verantwortung trägt. Dieser Satz ist an den Propheten gerichtet: „Gebiete deiner Familie, zu beten und sei dabei geduldig." Dieser Befehl gilt nicht nur für den Propheten; wir alle sind dazu verpflichtet.

Was ist mit den Kindern? Sollten sie von Kindheit an dazu erzogen werden, das rituelle Gebet zu verrichten? Das Gebet sollte Kindern ab dem Alter von sieben Jahren gelehrt werden. Auch wenn sie die Sätze noch nicht korrekt aussprechen können, können sie doch lernen, das Gebet als eine Gewohnheit zu beachten. Es sollte jedoch bedacht werden, dass kein Zwang angewendet werden sollte. Sie sollten ermutigt und ihnen sollte die Gelegenheit gegeben werden, es freiwillig zu verrichten. Es gibt viele Arten und Weisen, zu ermutigen, wie z. B. Loben, Belohnen, und eine Umgebung schaffen, die für das Verrichten des Gebetes förderlich ist.

Das Kind zum gemeinschaftlichen rituellen Gebet in eine Moschee mitzunehmen ist z. B. eine effektive Weise der Ermutigung und der religiösen Erziehung. Selbst Erwachsene sind vom Geist des Gottesdienstes in einer Gruppe sehr beeinflusst. Nachlässigkeit im Hinblick auf die gewohnheitsmäßigen Besuche von Gebetsstätten verursacht einen dauerhaften Mangel an Neigung zum rituellen Gebet. Dies trifft insbesondere zu bei Kindern, die nicht so erzogen wurden, dass sie dies als eine religiöse Pflicht ansehen und die, wenn sie das Erwachsenenalter erreichen, relativ gleichgültig demgegenüber sind.

Der Qur'an sagt: „Was hat euch in das Feuer der Hölle gebracht?" Sie werden sprechen: , Wir waren nicht unter denen, die beteten, noch speisten wir die Armen, und wir ergingen uns in eitlem Geschwätz mit den Schwätzern. '" (Sure 74, Verse 43-46).

Nun ist verständlich, warum im Islam das rituelle Gebet vom Propheten als ein Pfeiler der Religion bezeichnet wird, denn alles wird angenommen, wenn das rituelle Gebet korrekt verrichtet wird. In den letzten Minuten seines Lebens lud Imam 7Ali (a.s.) die Menschen ein, die Bemerkung des Propheten hinsichtlich des Gebetes sehr ernst zu nehmen. Sie haben vielleicht gehört, dass Imam Husayn (a.s.) am Nachmittag den Märtyrertod fand; demnach waren am Mittag viele der Familienangehörigen und Gefährten des

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Imams noch am Leben und nur 30 von ihnen wurden vor Mittag getötet. Einer der Gefährten des Imams erkannte plötzlich, dass es Mittag und Zeit war, das Gebet zu verrichten. Er bat den Imam ein letztes Mal um ein Gemeinschaftsgebet. Der Imam stimmte zu und sagte. „Du hast an dein Gebet gedacht, so mache dich Gott zu einem demütigen Menschen im Gebet."

Es war passend für diesen Kämpfer, dass der Imam ihn mit diesem Worten bedachte. Auf jeden Fall verrichteten sie das Gebet gemeinsam auf dem Schlachtfeld, ein rituelles Gebet, das aus zwei Gebetseinheiten besteht anstatt von vier, und in dem die eine Hälfte der Armee betet, während die andere Hälfte den Feind im Auge behält. Dann tauschen die Gruppen ihre Plätze um ihr rituelles Gebet bzw. ihre militärische Pflicht zu tun.

Imam Husayn (a.s.) verrichtete das rituelle Gebet auf diese Weise, nicht weit von den feindlichen Linie entfernt. Der schamlose Feind ließ sie nicht einmal in diesem Moment in Ruhe und setzte seine Angriffe mit Pfeil und Bogen und schneidender Zunge fort, mit der sie diese hingebungsvollen Soldaten verhöhnten. Zwei der Männer, die den Imam in seinem Gebet schützten, fielen den feindlichen Pfeilen zum Opfer. Einer von ihnen war Sa7id bin 3Abdullah Hanafi, der im Sterben lag, als der Imam sein Gebet beendet hatte. Als der Imam zu ihm ging, sagte Sa7id: „O Abu 7 Abdullah, habe ich meine Pflicht getan?" damit andeutend, dass er gerne mehr getan hätte.

Das war das rituelle Gebet Imam Husayns (a.s.) in Kerbala. In seiner Niederwerfung, als die rechte Seite seines Gesichtes die Erde berührte, weil er seine Stirn nicht mehr auf den Boden legen konnte, in diesem Moment sagte er: „Im Namen Gottes und mit der Hilfe Gottes und bei der Religion des Gesandten Gottes: es ist keine Macht oder Kraft als in Gott, dem Höchsten, dem Mächtigen. O Gott, segne Muhammad und seine reine Familie."

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6. Reue

Und Jonas ging im Zorn hinweg und war überzeugt, dass wir ihn nie in Betrübnis bringen würden; und da rief er in der dichten Finsternis: 'Es ist kein Gott außer dir. Gepriesen seist du! Ich bin fürwahr einer der Frevler gewesen.' Da erhörten wir ihn und retteten ihn aus seiner Bedrängnis; und genauso retten wir die Gläubigen. " (Sure 21, Verse 87 und 88).

In den beiden vorausgegangenen Gesprächen habe ich erklärt, dass Gottesverehrung und Gebet möglicherweise zu einer wahren Zuneigung zu Gott führen, wenn sie auf die richtige Weise dargebracht werden. Durch die Verehrung wird der Mensch ein wahrer Diener Gottes sein und ein wahrer Diener ist Gott aufrichtig zugeneigt. Mit anderen Worten: ein wahrer Diener Gottes zu sein hat eine heilige Reise zur Bedingung, die in der Zuneigung zu Gott endet.

In diesem Gespräch soll die erste Stufe dieser heiligen Reise diskutiert werden, nämlich der Punkt, an dem wir unsere Reise zur Zuneigung Gottes beginnen müssen. Und dieser bedürfen wir heutzutage. Es nützt uns, die wir noch keine Schritte auf diesem heiligen Weg gemacht haben, nicht, die höheren Stufen jener, die diesen Weg beschreiten, zu diskutieren.

Wenn wir praktisch eingestellte Menschen sind, sollten wir den ersten Schritt und die erste Stufe ebenso erkennen wie die Art und Weise, auf die wir unsere Gottesverehrung beginnen sollten.

Der erste Schritt auf dem Weg der Zuneigung zu Gott ist bereuen, was nun weiter ausgeführt werden soll. Was bedeutet Reue? Welcher Art ist sie aus psychologischer Sicht? Welche spirituellen Folgen hat sie? Vielen von uns erscheint Reue als eine einfache Angelegenheit, doch haben wir jemals darüber nachgedacht, sie psychologisch zu analysieren? Reue ist eine Eigenschaft des Menschen, die ihn von den Tieren unterscheidet. Der Mensch verfügt über einige hohe Begabungen und charakteristische Eigenschaften, die bei Tieren nicht zu beobachten sind. Eine davon ist die Fähigkeit, zu bereuen. Das bedeutet nicht einfach nur zu sagen „astagfirullaha rabbi wa atubu ilayh - Ich suche Vergebung von Gott, dem Höchsten und ich bereue vor ihm".

Es ist nichts Verbales. Es ist ein psychologischer und spiritueller Zustand, eine Veränderung des Geistes, und der zuvor genannte Ausspruch beschreibt diesen Zustand, doch er ist nicht der Zustand selbst. Wenn wir also diesen Satz mehrmals am Tag aussprechen, dann bedeutet das nicht, dass wir reuevoll sind. Aufrichtige Reue bringt uns Stufe für Stufe Gott näher.

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Einführend möchte ich darauf hinweisen, dass es einen Unterschied gibt zwischen leblosen und lebenden Dingen im Hinblick auf die Tatsache, dass die leblosen Dinge nicht die Fähigkeit besitzen, aus eigener Kraft den Kurs zu ändern, dem sie folgen, wie uns am Beispiel der Drehung der Erde um die Sonne oder der Bewegung der Sterne in ihren Planetenbahnen oder einem Stein, der von einer höheren Stelle geworfen wird und aufgrund der Schwerkraft zu Boden fällt, deutlich wird. Es muss einen äußerlichen Faktor geben, der in der Lage ist, sie von ihrem gewohnheitsmäßigen Kurs abzubringen.

Andererseits haben Lebewesen wie z. B. Pflanzen und Tiere die Fähigkeit, selbst ihre Richtung zu ändern und wenn sie auf Bedingungen treffen, die für ihr Leben nicht angemessen sind, dann ändern sie selbst ihre Richtung. Wenn ein Schaf, eine Taube oder auch eine Fliege auf ein Hindernis treffen, dann verändern sie ihre Richtung, wenn es sein muss auch um 180° und schlagen dann die entgegengesetzte Richtung ein. Selbst Pflanzen können in einem bestimmten Rahmen und unter bestimmten Bedingungen ihre Richtung verändern. Wenn die Wurzeln eines Baumes auf einen Stein treffen, dann ändern sie ihre Richtung.

Auch der Mensch ähnelt in dieser Frage Pflanzen und Tieren. Reue ist in Wirklichkeit ein Richtungswechsel, und zwar kein einfacher wie der von Tieren und Pflanzen, sondern ein weitaus komplexerer, der analysiert werden sollte.

Reue ist eine innerliche Revolution des Menschen gegen das Selbst. Pflanzen und Tiere agieren nicht gegen sich selbst, doch der Mensch besitzt die Fähigkeit, sich so zu verhalten. Der Aufstand einer Gruppe von Menschen gegen eine andere Gruppe ist eine natürliche und klare Angelegenheit, denn wir erwarten von den Unterdrückten, dass sie sich gegen die Unterdrücker erheben. Das trifft ebenso zu wenn sich ein Land oder ein Volk gegen ein anderes Land oder Volk erhebt.

Doch der Aufstand eines Menschen gegen das eigene Selbst ist nicht so einfach und offensichtlich. Warum geschieht das? Der Grund dafür ist, dass der Mensch, wenngleich er einen Körper hat, intellektuell und spirituell gesehen ein komplexes Wesen ist. Der Mensch ist eine Mischung von tierischer Wildheit und Trieben einerseits und von engelsgleichen Eigenschaften andererseits. Manchmal lässt sich der Mensch von seinen Gelüsten beherrschen, was dem wilden Tier oder dem Engel in ihm keine Möglichkeit lässt, zu agieren. Plötzlich rebelliert eines der Teile gegen diese Herrschaft und überkommt es zugunsten der Dominanz eines anderen seiner Aspekte.

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Ein sündhaftes Wesen ist, wer im Innern vom Tier oder Teufel beherrscht wird, wodurch der Engel und seine erhabenen Eigenschaften gefangen genommen werden. Reue ist der Aufstand der edlen Eigenschaften im Innern gegen die eigenen niedrigen und elenden Aspekte, was deren Dominanz ein Ende bereitet und all ihre Kraft zerstört.

Auch das Gegenteil ist richtig und die niedrigen Aspekte des Menschen können die edlen Aspekte besiegen und den Menschen zur Selbstzerstörung führen. Es ist richtig, dass alle Instinkte und Kräfte, die dem Menschen verliehen wurden, auch einen Nutzen haben und in der geeigneten Situation und im passenden Moment Anwendung finden müssen. Doch für sie alle gibt es eine Grenze, die beachtet werden muss.

Man muss sich um ein Pferd oder einen Hund kümmern, damit es bzw. er nützlich ist. Es gibt Bedingungen für einen angemessenen Umgang mit ihnen und eine Grenze für ihren Einsatz. Für ein Kind ist das Spiel notwendig, damit es lernt und seinen Energieüberschuss abbauen kann. Es käme einer falschen Erziehung gleich, würde man das Kind von seinem natürlichen Spieltrieb abhalten wollen. Es wäre unnatürlich, es dazu zu zwingen, sich in die Gemeinschaft der Erwachsenen zu begeben. Vielleicht haben Sie schon einmal Kinder gesehen, die aufgrund der beharrlichen Aufforderung des Vaters jahrelang das rituelle Gebet und andere Handlungen der Gottesverehrung verrichten, doch wenn sie dann erwachsen sind, dann verwandeln sie sich plötzlich in liberal Gesinnte, die in ihrer Ausschweifung keine Grenzen kennen. Was ist der Grund dafür? Der Grund dafür ist die lange Unterdrückung natürlicher Veranlagungen mit der Entschuldigung, eine höhere spirituelle Erziehung zu verfolgen. Natürlich ist die Neigung zu Göttlichkeit und Gottesverehrung ein Teil des kindlichen Wesens, doch sollten diese nicht auf Kosten all seiner anderen natürlichen Veranlagungen gestärkt werden, von denen jede an der Entwicklung eines vollkommenen Menschen Teil hat und wichtig dafür ist. Andernfalls kann diese ganze Struktur, die ihm durch Zwang auferlegt wurde, bei der kleinsten Versuchung zusammenbrechen und einen irreparablen Schaden verursachen.

Reue ist das Gegenteil dieses zuvor genannten Verhaltens. Wenn jemand tief in sündhaftes Verhalten versinkt und der Engel in ihm nicht befriedigt wird, kommt es plötzlich zu einer Katastrophe. Der Mensch hat nicht nur einen Mund; er hat hunderte von Mündern, die gefüttert werden wollen, den Mund der Begierde, den Mund der Liebe, den Mund der Gottesverehrung. Der Geist muss genährt werden mit Gottesverehrung und -anbetung. Wenn er jedoch hungern muss, dann ist die daraus folgende Unruhe furchtbar. Ein

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junger Mensch, dem es eigentlich gut gehen sollte und der alle Möglichkeiten hat, begeht plötzlich Selbstmord. Jeder wundert sich, warum er das getan hat. Der Grund dafür ist, dass eine heilige Kraft in ihm gefangen war und ihm so viel Leid verursacht hat, dass er dies nicht ertragen konnte und er diesen Ausweg daraus gewählt hat. Jemand führt z. B. ein luxuriöses Leben in einer schönen Umgebung und dennoch ist er unzufrieden und fühlt sich nicht wohl, denn er vermisst die spirituellen Freuden, deren er aufgrund seiner Natur bedarf und die in ihm selbst entstehen und ihm nicht von außen geboten werden müssen.

Somit ist Reue eine Reaktion des heiligen und edlen Geistes des Menschen auf das niedrige animalische Selbst; eine heilige Revolte der engelhaften Seite gegen das Böse und die tierischen Sünden in ihm.

Wie geht sie vonstatten? Man sollte zunächst bedenken, dass im Falle, dass die heiligen Aspekte der menschlichen Persönlichkeit völlig in den Hintergrund treten und so sehr gefesselt werden, dass Befreiung unmöglich wird, man nicht die göttliche Gunst der Reue erlangen kann. Aber ebenso wie die Anwesenheit einiger weniger tugendhafter und reiner Menschen in einem Land eine Revolution entfachen kann, ermöglicht das Vorhandensein einiger weniger feiner und edler Elemente in einem Menschen die Reue. Wenn man Gott kennt, dann kann diese Reue die Form des sich Hinwendens zu Gott annehmen; andernfalls wird es eine andere Form annehmen und vielleicht sogar zu Verrücktheit führen.

Wir haben Reue als eine Reaktion bezeichnet. Wenn man einen Ball auf den Boden wirft, springt er zurück. Das Werfen ist eine Aktion und das Zurückprallen die Reaktion. Wie hoch der Ball zurückspringt hängt von zwei Faktoren ab: erstens von der Intensität der Aktion, in unserem Fall der Sünde. Wenn sie klein ist, wird die Auswirkung ebenfalls gering sein und wenn sie groß ist, dann wird die Auswirkung auf den Geist groß sein. Je grausamer ein Mensch also ist und je größer seine Vergehen, desto intensiver wird die Konsequenz davon sein. Der amerikanische Pilot des Flugzeuges, das Hiro-schima bombardierte, fühlte beim Anblick der Stadt, die er bombardiert hatte und den alten und jungen Menschen die er getötet hatte, einen solchen Schmerz in seinem Bewusstsein, dass er, als er in sein Heimatland zurückkehrte, um von seinen Landsleuten empfangen zu werden und eine Auszeichnung zu empfangen, er ein vollkommen veränderter Mensch war, obwohl er für diese Aufgabe vor allem aufgrund seiner Grausamkeit und Gleichgültigkeit ausgewählt worden war. Vielleicht hat er sogar gelächelt über die Worte, mit denen er gepriesen wurde, doch in der Privatsphäre sei-

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nes Zuhauses, als er mit seinem Bewusstsein allein war, fühlte er sich so sehr als Verbrecher, dass er in einem Irrenhaus endete.

Bupr ibn Artass war ein sehr grausamer General Mu7awiyas. Es gehörte zur Politik Mu7awiyas, dass er ihn oder andere ähnlich hartherzige Männer an der Spitze einer Armee lossandte, um die Grenzen zu verletzten und in 7Alis (a.s.) Reich so viel Schaden wie möglich anzurichten. Er gab ihnen freie Hand, zu töten, zu verbrennen, zu plündern und zu zerstören. Dieser Bupr griff einmal Jemen an und beging viele Verbrechen, und er nahm auch die beiden kleinen Söhne von 3Ubaydullah ibn 3Abbas, 7Alis (a.s.) Cousin, der dort Gouverneur war, gefangen und enthauptete sie. Später quälte ihn sein Bewusstsein wegen dieser schrecklichen Tat so sehr, dass er weder im Schlaf noch im Zustand des Wachseins einen Moment lang Vergessen von seiner Bluttat finden konnte. Schließlich kam es soweit, dass er, ein Holzschwert in der einen und eine Peitsche in der anderen Hand haltend, mit einem Holzpferd durch die Straßen ritt, gefolgt von Kindern, die schrien und sich über ihn lustig machten.

Der zweite Faktor, von dem die Intensität der Wirkung der Reue abhängt, ist das Bewusstsein und der Glaube des Menschen. Das ist auch der Grund, warum kleine Schnitzer, die kaum als Sünde bezeichnet werden können, das Bewusstsein derjenigen aufrütteln, die spirituell stark und fest sind, während die meisten von uns jeden Tag Hunderte solcher Schnitzer begehen können, ohne uns darüber Gedanken zu machen.

Fromme und spirituell starke Menschen sind ständig in einem Zustand der Reue. Ein solcher Mensch war mein großartiger Lehrer, der verstorbene HaJJ Mirza 7Ali Aga Pirazi. Er besuchte uns einmal in Qum und lud mich dann ein, mit ihm an einer Versammlung teilzunehmen, wo die auserwähl-testen Stücke sowohl der persischen als auch der arabischen Poesie vorgetragen wurden. Er nahm aktiv an den Diskussionen teil und war einer von jenen, die einige Verse vortrugen. Niemals zuvor hatte ich erkannt, dass er in diesem Bereich über ein derart profundes Wissen verfügte. Die Verse waren von Dichtern wie Sa7di, Hafic und anderen. Natürlich ist es keine Sünde, Gedichte zu rezitieren, insbesondere derartige Gedichte; doch in der Nacht Gedichte zu rezitieren ist nicht wünschenswert, und als wir jenes Haus verließen, äußerte er unentwegt Worte der Reue, so als habe er eine große Sünde begangen, während viele von uns sich keine Gedanken machen über Dinge, die vielleicht viel schlechter sind.

Die Bestrafung, die Gott für solche Menschen bestimmt hat, ist so, dass wir ihrer nicht wert sind. Dieser Mann stand gewöhnlich zwei Stunden vor

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der Morgendämmerung auf und durch sein Vorbild habe ich die Bedeutung von Hingabe, Gottesfurcht, Reue und vollkommenem Aufgehen in Gott verstanden. Doch am nächsten Morgen wachte er später auf als gewöhnlich und er erklärte, dass dies die Strafe Gottes sei dafür, dass er sich in der vorherigen Nacht mit Gedichten befasst habe. Dieser Mann war der Meinung, dass jemand, der zwei Stunden mit einer solchen Beschäftigung verpasst hatte, eines notwendigen zweistündigen Zwiegespräches mit Gott nicht wert sei.

Ich kann auch ein anderes Beispiel anführen. Wenn man einen sauberen Spiegel an einem Ort lässt, an dem man die Luft für rein hält, wird man dennoch bereits eine Stunde später feststellen können, dass sich eine leichte Staubschicht auf den Spiegel gelegt hat, obwohl man ursprünglich keinen Staub bemerkt hatte, auch nicht auf Wänden oder Möbeln. Wenn eine Wand schmutzig ist, und man diese Wand schwärzt, dann kann man keinen Schmutz oder Flecken darauf erkennen.

Als der Prophet (s.a.s.) einmal in einer Versammlung saß, wiederholte er folgende Worte der Reue mehrmals: „Ich spüre Spuren der Trübheit auf meinem Herzen und jeden Tag bereue ich deshalb viele Male." Solche Dinge erscheinen uns klar wie ein Siegel, während sie für ihn Trübheit und Verschwommenheit bedeuten. Selbst zu uns Menschen über Gott zu sprechen mag ihm als Trübheit erscheinen, trotzdem Gott im Spiegel unserer Existenz gesehen wird.

Von Umm Salamah und anderen wurde überliefert, dass der Prophet (s.a.s.) in den zwei Monaten vor seinem Tod gleich wo er war und was er tat, immer das folgende Gebet sprach: „Lobpreisung gebührt Gott. Ich suche Vergebung von ihm und ich bereue vor ihm." Sie sagte: „Ich fragte ihn, warum er diese Worte der Reue so oft wiederholte, und er antwortete, dass es ihm geboten sei. Erst später haben wir erkannt, dass ihm der letzte Teil des Qur'an offenbart worden war, und er spürte, dass dieses ein Hinweis auf sein bevorstehendes Ende war." Das war Sure 110 mit den drei Versen: „Wenn die Hilfe Allahs kommt und der Sieg, und du die Menschen zur Religion Allahs in Scharen übertreten siehst, dann lobpreise deinen Herrn und bitte ihn um Vergebung! Er ist ja bereit, zu verzeihen."

Diese Verse wurden ihm sogar noch später offenbart als die Verse bezüglich der Vollendung der Religion des Islam und der Nachfolge 7Alis (a.s.), und sie machten ihm deutlich, dass seine Aufgabe vollendet war und es Zeit war für den Propheten, an sich selbst zu denken, und das ist der Grund, warum er fortdauernd Gott lobpreiste und seine Vergebung erflehte.

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Doch wir armen Geschöpfe sind wie diese geschwärzte Wand, und wiederholte Sünden bewirken keine Reaktion in unserem Geist. Ich weiß nicht, wo und für wie lange wir in unserem Geist gefangen waren, dass wir keinerlei Zeichen des Bedauerns über unsere dunkle Vergangenheit sehen und erkennen, dass wir irregegangen sind und uns nun Gott zuwenden müssen. Dann werden wir am Anfangspunkt unserer himmlischen Reise sein.

Ein Mann kam einmal zu 7Ali (a.s.) und erbat dessen Rat. Er sagte. „Sei nicht wie jene, die sich nach dem nächsten Leben sehnen, aber nichts dafür tun." In der Tat sind einige von uns genau so. Wir behaupten, 7Ali (a.s.) zu lieben, doch es ist keine richtige Liebe, denn wenn es das wäre, wäre sie von Handeln begleitet. Solche Menschen nehmen an, dass 7Ali (a.s.) Gesellschaft bedarf, selbst wenn sie keine wahren Anhänger sind. Das gleiche Verhalten trifft auf jene zu, die um Imam Husayn (a.s.) weinen, ohne dass dies von guten Handlungen begleitet wäre. Wenn es jedoch aufrichtige Liebe wäre, dann würden sie etwas tun, um das zu beweisen.

Der zweite Ratschlag von 7Ali (a.s.) war: „Sei nicht wie jene, die Reue für notwendig ansehen und sie dennoch hinausschieben." Die Menschen denken oftmals, sie seien noch zu jung, um zu bereuen, denn sie sehen, dass vor allem alte Menschen sich der Gottesanbetung und Reue widmen. Die Wahrheit ist jedoch, dass die Jugend die Zeit der Reue ist. Ein junger Zweig kann noch zurechtgebogen werden, doch wenn er zu einem dicken Ast geworden ist, lässt er sich einer Veränderung seiner Gestalt nicht mehr unterwerfen. Im Alter ist keine Kraft mehr vorhanden, die Reue praktikabel macht. Zu der Zeit ist unser Rücken zu sehr gebeugt von den Sünden, um unsere Reue wirkungsvoll zu machen. Rumi, der Dichter, erzählt uns eine Geschichte von einem Mann, der auf einem Fußweg einen Dornenstrauch gepflanzt hatte. Als er heranwuchs, forderten ihn die Leute auf, ihn auszureißen, doch er sagte: „Es ist noch zu früh, das hat keine Eile. Man kann ihn leicht ausreißen." Jahr für Jahr brachte er diese Entschuldigung vor. Doch der Strauch wurde immer größer, seine Wurzeln immer stärker und seine Dornen spitzer und gefährlicher, während der Mann immer älter und schwächer wurde und schließlich unfähig war, ihn mit der Wurzel aus der Erde zu ziehen.

Der Dichter möchte damit verdeutlichen, dass Sünden in einem Menschen sehr schnell Wurzeln schlagen. Man kann sie beseitigen, wenn man jung ist, doch je älter man wird, desto hilfloser wird man ihnen gegenüber. Dann ist es zu spät, irgendetwas zu tun. Ich schwöre bei Gott, dass selbst das Hinauszögern von nur einer Stunde wichtig ist, und ebenso verhält es sich mit einem Tag und einer Nacht. Es ist besser, heute zu bereuen, als morgen und

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besser heute Nacht als morgen Nacht. Gottesverehrung ist nutzlos ohne Reue. Geradeso wie man sich für das rituelle Gebet wäscht, sollte man zunächst bereuen bevor man einen Gottesdienst verrichtet, sei es Beten, Fasten, Qur'anlesen, zur HaJJ gehen oder eine Predigt anhören.

Jemand kam zu 7Ali (a.s.) und betonte seine Absicht, bereuen zu wollen. Der Imam erkannte, dass er nicht aufrichtig war und fragte ihn: „Weißt du, was Reue ist? Es ist eine Tat, die eines erhabenen Seins wert ist; es ist ein heiliger Gemütszustand, der dich fühlen lässt, dass Gott dir seine Gnade gewährt hat und dass du von Engeln umgeben bist. Du verlierst deinen E-goismus und fühlst dich geläutert." Wenn man bereuen will, ist es nicht nötig, einen Geistlichen oder jemand anderen aufzusuchen. Bereue vor deinem Gott, wie im Heiligen Qur'an gesagt wird: „ Sprich: , O meine Diener, die ihr euch vergangen habt gegen eure eigenen Seelen, verzweifelt nicht an Allahs Barmherzigkeit, denn Allah vergibt alle Sünden... " (Sure 39, Vers 53).

Der folgende Satz stammt aus einer gesegneten Überlieferung: „Das Lamentieren (aus Reue) der Sünder ist mir lieber als die gepriesenen Verherrlichungen (von mir), deshalb solltet ihr in diesen kostbaren Nächten Seufzen und Klagen. Sei dein eigener Richter und Zensor, gestehe alle deine Sünden ein und sei gewiss, dass Gott dir vergeben und deine Seele läutern wird. Dann schmeckst du die Süße der Gottesverehrung, und die Sünde und das Vergnügen, das du durch sie gewonnen hast, wird dir so unerheblich erscheinen, dass du niemals geneigt bist, sie nochmals zu begehen noch zu lügen oder über andere schlecht zu reden oder sie anzuklagen."

7Ali (a.s.) hat für die Reue sechs notwendige Bedingungen genannt: Zwei bilden die Grundlage, zwei sind für ihre Akzeptanz und zwei für ihre Vollendung nötig. Diese sechs Punkte werden im nächsten Kapitel erklärt werden.

Für fromme Menschen war es immer die größte Freude, Gott ihre Unzulänglichkeiten, Fehler, Bedürfnisse und ihre Bedürftigkeit einzugestehen, sagend, dass sie nichts als Nachlässigkeit zeigen, während Gott ihnen nichts als Gunst und Segen zuteil werden lässt. Das folgende Gebet ist von Imam Husayn (a.s.) überliefert: „Mein Herr, wenn ich auf meine Sünden blicke, überkommt mich Furcht, doch wenn ich auf deine Gnade blicke, bin ich von Hoffnung erfüllt."

Lassen Sie mich einige Worte zu der Tragödie von Kerbala sagen. Am 9. Muharram, dem Tag vor dem Märtyrertod von Imam Husayn (a.s.) begann die Armee von 3Umar ibn Sa7d ihren Angriff auf Geheiß von 7Ubaydullah ibn Ziyad, um in der Nacht zu kämpfen. Imam Husayn (a.s.) bat durch sei-

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nen Bruder, Abu-l-Fawl 3Abbas um eine Pause für eine Nacht. Um den Verdacht auszuräumen, ihm könne an einer Verzögerung des Kampfes gelegen sein, sagte er: „Mein lieber Bruder, Gott selbst weiß, dass ich ihm gerne meine Gebete darbringe und heute Nacht, die die letzte Nacht in meinem Leben ist, bin ich noch eifriger darauf bedacht, das zu tun und meine Reue anzubieten und Seine Vergebung zu erbitten."

Es war eine wunderbare Nacht der Freude für sie, voller Hoffnungen auf den Märtyrertod. Sie reinigten sich und machten sich zurecht und kürzten sogar ihr Haar. Sie hatten ein Zelt eigens für diesen Zweck vorbehalten. Jemand war im Zelt und zwei Männer davor, als einer von ihnen anfing, Späße zu machen. Der andere sagte ihm, dass dies kein Anlass für Freude und Fröhlichkeit sei. Jener antwortete, dass er gewöhnlich nie scherze, doch dass diese Nacht für ihn eine Nacht der Freude sei.

Als die Feinde sich dem Zelt näherten, hörten sie etwas, das sich wie das Summen von Bienen anhörte und sie fragten, was das sei. Ihnen wurde gesagt, dass der Imam, seine Familie und seine Gefährten damit beschäftigt seien, zu beten und Gott anzurufen. Der Imam verbrachte diese Nacht in Andacht und Gottesverehrung. Er sah die Lage seiner Familie und er hielt seine letzte, eloquente Predigt für seine Anhänger.

Lassen Sie mich einen erwähnen, der in dieser Nacht in Kerbala einer der Reuevollen war, ein aufrichtig Reuevoller, dessen Reue angenommen wurde: Hurr ibn Yazid al-Tamimi. Er war ein tapferer Soldat aus Kufa. Als Ibn Ziyad zum ersten Mal 1000 Männer gegen Imam Husayn (a.s.) losschicken wollte, war Hurr derjenige, der ausgewählt wurde. Damit unterdrückte er die Familie des Propheten (s.a.s.) und tat ihr Unrecht. Es wurde erzählt, dass Hurr zitterte wie ein Blatt im Wind. Derjenige, der das erzählte, war selbst überrascht und ging zu Hurr und fragte ihn nach dem Grund seiner Furcht. Hurr sagte ihm: „Nein, ich fürchte mich nicht vor dem Kampf, doch ich sehe mich selbst an einer Kreuzung zwischen Himmel und Hölle und ich frage mich, welchen Weg ich einschlage."

Schließlich wählte er den richtigen Weg. Langsam führte er sein Pferd abseits, auf eine Weise, dass niemand wusste, was er vorhatte. An einem bestimmten Punkt gab er seinem Pferd die Sporen bis er das Zelt des Imam erreicht hatte, sein Schild auf dem Rücken haltend, als Zeichen dafür, dass er in Frieden kam.

Als er den Imam sah, schrie er: „Ist meine Reue annehmbar?" Der Imam sagte dann: „Ja." Er war so edel, dass er ihm kein Wort des Vorwurfes wegen seines früheren Verhaltens machte. Hurr bat den Imam, ihn gehen und

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kämpfen zu lassen. Der Imam sagte: „Du bist unser Gast. Steig' von deinem Pferd herunter und bleibe eine Weile bei uns." Doch er schämte sich, hielt sich selbst vor, dass er sich in der Vergangenheit gegen die Familie des Propheten versündigt hatte. Aus diesem Grunde bat er Imam Husayn (a.s.) nochmals, ihn gegen die angreifenden Feinde kämpfen zu lassen, bevor eines der Kinder ihn ansehen und ihn dies aus Scham sterben lassen würde.

Unser Herr, wir haben gegen uns selbst gesündigt; und wenn du uns nicht verzeihst und dich unser erbarmst, dann werden wir gewiss unter den Verlorenen sein. " (Sure al-A7raf, Vers 23).

In den vorangegangenen Abschnitten habe ich erklärt, dass Reue der erste Schritt der Andächtigen auf der Reise der Zuneigung zu Gott ist, und ich habe versprochen, in diesem Gespräch die Erklärung von 7Ali (a.s.) über die Bedingungen und Stufen der Reue zu erwähnen. Bevor ich dies tue, möchte ich diese Frage beantworten: „Wann ist die geeignete Zeit zur Reue, und wann wird sie angenommen?"

Ein Mensch hat die Gelegenheit zu bereuen, solange er lebt und bevor der Tod ihn ereilt. Wenn er sich jedoch in den Klauen des Todes befindet, dann bleibt ihm keine Zeit mehr zur Reue. Traditionellen Interpretationen zufolge ist der Zeitpunkt des Todes der Moment, an dem man den Tod sieht und fühlt und einen Blick auf die kommende Welt erhascht.

Reue in der kommenden Welt hat keine Bedeutung, denn dann ist der Mensch nicht in einer Situation, in der ihm Reue möglich ist, noch kann diese dann echt sein. Der Grund jedoch, warum Reue zum Zeitpunkt des Todes nicht akzeptabel ist, wird vom Qur'an erklärt: „Und als sie unsere Strafe sahen, sprachen sie: , Wir glauben an Allah als den Einigen, und wir verwerfen all das, was wir ihm zur Seite zu stellen pflegten.' Aber ihr Glaube - als sie unsere Strafe sahen - konnte ihnen nichts mehr nützen... " (Sure Fussilat, Verse 84 und 85).

Warum verhält es sich so? Weil Reue nicht einfach nur bedauern oder aufgrund dieses oder jenen Faktors eine Umkehr vom falschen Weg bedeutet. Reue ist dann echt, wenn eine innere Veränderung im Menschen stattfindet, die einen Aufstand gegen alle Gelüste, üblen Kräfte und elenden Taten und die Beherrschung all dessen verursacht.

Im Angesicht der göttlichen Vergeltung aber Glauben und Reue auszudrücken, ist keine innerliche Veränderung. Der Qur'an sagt über Pharao: „...Und Pharao mit seinen Heerscharen verfolgte sie widerrechtlich und feindlich, bis er nahe daran war, zu ertrinken, (und) sprach: ,Ich glaube, dass es kein Gott ist als der, an den die Kinder Israels glauben, und ich gehöre nun zu

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den Gottergebenen.'" (Sure Yunus, Vers 90). Solange Pharao am Leben war, agierte er wie ein Tyrann und nichts und kein Ratschlag konnten ihn überzeugen. Er greift zu einem Wettbewerb zwischen seinen Zauberern und Moses; er zeigt noch mehr Widerspenstigkeit und beschließt, Moses und seinen Stamm zu töten. Er verfolgt sie auf ihrer Flucht und als er nahe daran ist, im Meer zu ertrinken, und es keinen Ausweg für ihn gibt, da bereut er und erklärt seinen Glauben an den Gott von Mose. Doch seine Reue kommt zu spät, als das sie noch akzeptabel wäre, denn es ist keine echte innerliche Veränderung. Seine Reue gründet allein auf seiner Hilflosigkeit in einer Schwierigkeit. So sagen sie zu ihm: „Wie, jetzt? Wo du bisher ungehorsam und einer derer warst, die Unheil stifteten?" (Sure Yunus, Vers 91). Mit anderen Worten ausgedrückt: „Warum hast du nicht vor einer Stunde bereut als du noch die Freiheit hattest, das zu tun?" Denn dann wäre es eine wahre Veränderung des Herzens gewesen. Welcher Straftäter in der Welt bereut nicht im Moment der Bestrafung? Wenn er jedoch Bedauern und Reue zeigt, bevor er gefasst wird, dann können wir sagen, dass er sich spirituell geändert hat.

Was nun die Frage anbelangt, warum Reue in der nächsten Welt nicht annehmbar ist, so liegt der Grund hierfür in der Tatsache, dass sich der Übeltäter dort mit Bestrafung und der Konsequenz seiner Taten konfrontiert sieht und seine Reue deshalb keine echte Veränderung darstellt. Hinzu kommt, dass der Tod dem Herabfallen einer Frucht von einem Baum gleicht. Solange sie Teil des Baumes ist, bedarf sie der Luft, Wasser und Nahrung, die der Baum aufnimmt. Selbst noch eine Stunde bevor sie herabfällt gibt es für diese Frucht die Möglichkeit, noch reifer und süßer zu werden; doch in dem Augenblick, in dem sie fällt, endet für sie jede Möglichkeit der weiteren Entwicklung.

Der Mensch ist die Frucht der Natur mit allen Möglichkeiten, gut oder schlecht zu sein. Wenn wir Anbetung und Hingabe praktizieren, werden wir reifer. Sündigen wir, werden wir geplagt wie eine faule Frucht. Reue ist einer der nährenden Wege solange man lebt, aber nicht im Tod oder danach. Alle Veränderungen und Revolutionen und Hoch und Tiefs sind mit dieser Welt verbunden, während sie im nächsten Leben alle zu einem Ende kommen und aufhören.

Ein andere Beispiel ist ein Baby im Bauch der Mutter: All seine Nahrung und seine Gesundheit verdankt es der Mutter, doch im Moment, wo es geboren ist, kommt die totale Abhängigkeit zu einem Ende und eine neue Ordnung für sein Leben ist etabliert, die sich von der vorherigen unterscheidet.

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In der nächsten Welt unterscheidet sich ebenfalls alles von der Ordnung in dieser Welt.

7Ali (a.s.) sagt: „Heute ist die Zeit der Taten und nicht der Berechnung, und morgen (im Jenseits) ist die Zeit der Berechnung (Jüngstes Gericht) und nicht die der Taten. " Er möchte damit nicht sagen, dass es in dieser Welt keine Bestrafung gibt. Einige der Unglücke, die uns widerfahren, sind Bestrafungen. Doch das bedeutet wiederum nicht, dass alle Bestrafungen für schlechte Taten in dieser Welt verhängt werden. Aus diesem Grunde können wir aus der Tatsache, dass jemand in dieser Welt keine Bestrafung erhält, nicht schließen, dass er sehr fromm ist und dass seine Rechnung geklärt ist.

Wenn andererseits ein Ereignis wie beispielsweise eine Flut Menschen tötet, ereignet sich das dann wegen ihrer Taten, und ist das ihre Bestrafung in der Welt? Nein. Der zuvor erwähnte Ausspruch von Imam 7Ali (a.s.) bringt zum Ausdruck, dass ebenso wie diese Welt für das Handeln und nicht für die Berechnung ist, die nächste Welt für die Berechnung und nicht für die Taten ist. Das ist der Grund, warum Reue vor dem Tod stattfinden muss, damit sie akzeptabel ist, d. h. sie muss dann stattfinden, wenn noch Zeit und Gelegenheit dafür ist.

Gott sagt im Qur'an: „Er (Satan) macht ihnen Versprechungen und erweckt Wünsche in ihnen, und was der Satan ihnen verspricht, ist ein Trug. " (Sure an-Nisa', Vers 120).

Ein Mann kam zu Imam 7Ali (a.s.) um zu bereuen, und als der Imam erkannte, dass der Mann die Bedeutung der Reue nicht kannte, sagte er zu ihm: „Kennst du die Bedeutung von Reue? Sie hat eine erhabene Stellung. Sie hat sechs Bedingungen, damit sie akzeptiert wird, und die beiden letzten sind die Bedingungen ihrer Vollständigkeit. " Was sind diese sechs Punkte?

Die erste Grundlage ist, dass man bedauert, was geschehen ist. Es bedeutet, dass das Schauen auf die schlechte Tat und ihretwillen so traurig und beschämt zu sein, das Herz brennen lässt. Der Qur'an sagt: „O die ihr glaubt! Berauschendes, Losspiel, Opfersteine und Lospfeile sind ein Gräuel, das Werk des Satans. So meidet sie, auf dass ihr erfolgreich seid. " (Sure al-Ma'ida, Vers 90).

Jeder weiß wie verächtlich totes Fleisch ist, und es gibt nichts, was passender wäre, als üble Nachrede damit zu vergleichen. Verleumdung gehört zur gleichen Kategorie der Sünden. Einige Menschen beginnen, wenn sie andere beschuldigen, mit der Phrase: „Es wurde gesagt", und sie nehmen an, dass sie sich auf diese Weise von der Sünde der Verleumdung freisprechen; und später streiten sie ihre Bemerkung ab und sagen, dass sie die Worte

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anderer zitiert haben. Auch das ist eine Sünde und der Qur'an hat es im folgenden Vers verboten: „Wahrlich, jenen, die wünschen, dass sich Unzucht unter den Gläubigen verbreite, wird im Diesseits und im Jenseits eine schmerzliche Strafe zuteil. " (Sure an-Nur, Vers 24).

Jene, die Anschuldigungen gegen andere verbreiten, begehen eine große Sünde. Das gleiche trifft zu bei unlauteren Blicken auf Frauen oder Mädchen bis zum Aufgeben des Gebetes und des Fastens und der Gleichgültigkeit gegenüber den heiligen Ritualen in den Monaten der Trauer und des Fastens. In der Öffentlichkeit unpassend gekleidet zu sein ist eine weitere derartige Sünde.

Als er von seiner Himmelsreise berichtete, sagte der Prophet (s.a.s.): „Ich sah dort Frauen, die an ihren Haaren aufgehängt waren und mit glühenden Geißeln geschlagen wurden und Frauen, die an ihren Brüsten aufgehängt waren und mit Peitschen geschlagen wurden. Ich fragte, wer sie waren und mir wurde gesagt: ,Das sind die Frauen, die ihren Körper in der Öffentlichkeit zur Schau stellten.'"

Von welchem Wert ist diese kurze Zeitspanne, als dass man sich selbst derartigen himmlischen Bestrafungen aussetzt? Ist es nicht Zeit, zu sich selbst zu kommen, demütig zu sein und Interesse zu zeigen an dem, was von Gott anbefohlen wurde? Der Qur'an sagt: „Ist nicht für die Gläubigen die Zeit gekommen, ihre Herzen zu demütigen vor der Ermahnung Allahs und vor der Wahrheit, die herabkam...?" (Sure al-Hadid, Vers 16). Was nützt es, zuweilen um des Scheins willen eine Träne zu vergießen anstatt zu bereuen und uns selbst und andere vom Sündigen abzuhalten?

Die zweite Grundlage der Reue ist ein entschiedener Entschluss, die schlechten Taten nicht erneut zu wiederholen. Reue hängt nicht ab von der Größe der Sünde. Jede Art von Sünde, sei sie groß oder klein, hält sich an Reue, vorausgesetzt, dass die Absicht des bzw. der Bereuenden aufrichtig ist.

Eine der beiden Bedingungen für die Annahme der Reue ist es, das zurückzugeben, was anderen gehört, sei es etwas, das beschlagnahmt wurde oder ein Recht, das missachtet wurde. Es muss entweder selbst zurückgegeben werden oder zumindest muss dem rechtmäßigen Besitzer Genugtuung geleistet werden. Gott wird ihn nicht vergessen, und das Gleiche trifft zu auf eine Person, über die üble Nachrede geführt wurde. Ihr muss Genugtuung zugestanden werden, und sie muss die Entschuldigung akzeptieren.

Ich möchte etwas erzählen, was mich selbst betrifft. Ich nahm als junger Theologiestudent an einer Gruppe teil, in der jemand begann, schlecht über

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den inzwischen verstorbenen Ayatollah HuJJat, dessen Schüler ich einige Jahre lang gewesen war, zu reden. Ich sah dies als falsch an, doch ich tat nichts. Eines Tages ging ich zu seinem Haus und bat um ein Gespräch mit ihm. Ich wurde hinein gebeten, und ich erklärte ihm, dass jener viel hinter seinem Rücken gesprochen hatte und ich nichts getan hatte, jenen zu stoppen. Ich fühlte mich deshalb schuldig und bat ihn um seine Vergebung. Mit der Größe, die dieser Mann hatte, sagte er: „Es gibt zwei Arten von Verleumdung über Menschen wie uns; eine ist eine Beleidigung für den Islam und die andere betrifft unsere Person." Ich erklärte, dass jener nichts Beleidigendes gegen den Islam gesagt hatte, sondern nur von seiner Person gesprochen habe. Er sagte mir, dass mir vergeben sei.

Bei der Reue gehört alles unrechtmäßig Erworbene anderen, gleich ob es eine religiöse Aufgabe, Bestechung, irgendein illegitimer Gewinn oder ein verursachter Schaden ist, und es muss zurückgezahlt und berichtigt werden, so dass der rechtmäßige Besitzer oder die Person, die den Schaden erlitten hat, zufrieden gestellt wird. Wenn es nichts mehr gibt, was man zurückgeben könnte, und der rechtmäßige Besitzer z. B. nicht mehr lebt, dann muss man Vergebung bei Gott suchen. So Gott will, wird er diese Person zufrieden stellen.

Ähnlicherweise müssen auch himmlische Rechte wieder hergestellt werden. Was sind himmlische Rechte? Wenn man versäumt hat, das Fasten einzuhalten oder das rituelle Gebet zu verrichten oder wenn es einem nicht gelungen ist, die Pflichtpilgerfahrt nach Mekka zu machen obwohl man physisch und finanziell dazu in der Lage gewesen wäre, muss man alle diese Fehler wiedergutmachen. Das ist die zweite Bedingung für die Akzeptanz der Reue.

Eine Frau, die bei einem meiner Gespräche anwesend war, schrieb mir, dass sie tief beeinflusst war von meinen Bemerkungen hinsichtlich der totalen Veränderung des Herzens. Sie bekannte, dass sie trotz ihrer weiterführenden Bildung und ihrer Arbeit als Leiterin einer Schule unglücklicherweise mit dem Qur'an nicht angemessen bekannt war, und sie bat um Führung und Rat.

Lassen Sie mich eine allgemeine Antwort geben. Es ist nötig, dass jeder Muslim Arabisch lernt, um den Qur'an und sein eigenes Gebet verstehen zu können. Doch heutzutage ist Englisch die internationale Sprache, und jedem Schuljungen und jedem Schulmädchen wird diese Sprache gelehrt, während Arabisch völlig vernachlässigt wird, obwohl es religiös und spirituell gesehen für uns sehr nötig ist.

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Der nächste Punkt, den 7Ali (a.s.) über die Bedingung für die Annahme der Reue erwähnt, ist es, sich selbst allen Fleisches, das durch illegitime Mittel gewachsen ist, zu entledigen. Dies erfordert die Abtötung des Fleisches, Enthaltung und Selbstdisziplin. Es bedeutet, Nutzen zu ziehen von dem, was legitim, ehrbar und angemessen ist.

Mein Vater erzählte, dass der verstorbene Razavi Khorasani, ein religiöser Weiser, sehr korpulent gewesen war. In seinen letzten Lebensjahren traf er einen demutsvollen Asketen und durch seinen Einfluss beschloß er, dieses überflüssige Fleisch loszuwerden, und zwar in einem Maße, dass er richtig mager und dünn wurde. Er selbst war zu dem Entschluss gekommen, dass eine religiöse Person nicht so dick sein muss.

Die letzte Bedingung, die ich erklären möchte, ist, dass man den Körper, der die Süße der Sünde gekostet hat, auch die Mühe der Abkehr von der Sünde und der Gottesverehrung fühlen lassen sollte. Fasten ist keine einfache Angelegenheit, insbesondere wenn man die Nacht im Gebet verbringt. Der Qur'an erwähnt folgende Punkte, wenn die Rede von Reue ist: „Wahrlich, Allah liebt diejenigen, die sich (ihm) reuevoll zuwenden und die sich reinigen. " (Sure al-Baqara, Vers 222).

Das bedeutet, dass man sich selbst nicht nur körperlich, sondern auch spirituell reinigen muss. Der Prophet was ein gutes Beispiel für beide Arten der Reinheit.

Der Qur'an spricht auch davon, sich selbst in Verbindung mit Reue zu verändern. Aber wer es bereut nach seiner Freveltat und es wiedergutmacht, von dem wird Allah die Reue annehmen, denn Allah ist allvergebend, barmherzig. " (Sure al-Ma'ida, Vers 39).

Ich habe bereits erwähnt, dass manchmal die Hälfte eines Menschen gegen die andere Hälfte rebelliert und diese Rebellion kann von der niedrigeren Seite einer Person kommen wie seiner Lust, seinem Zorn oder dem Teufel, oder von seiner höheren Seite wie seinem Intellekt, seinem Bewusstsein, seiner wahren Natur und seiner Tiefe des Herzens.

Jene, die im Namen der Gottesanbetung und Tugend ihre Triebe in Schach gehalten haben, werden plötzlich zu Liberalen und machen sich selbst zum Rebellen. Doch eine Veränderung, die ausgeht vom Glauben an Gott, ist durch das Erkennen der höheren Seite eines Menschen heilig und geht mit Veränderung einher.

Eine der Besonderheiten der Propheten im Vergleich zu anderen Führern der Menschheit ist, dass die von ihnen verfolgte Veränderung sich unterscheidet von einer Veränderung, die von Führern in einer Gesellschaft be-

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gonnen wird. Die letzteren schaffen es nur, eine Gruppe oder eine Klasse gegen eine andere Klasse oder andere Gesellschaftsklassen aufzubringen und sie mit den Mitteln auszustatten oder ihre Gegner zu überwinden. Diese Art der Veränderung hat ihren Nutzen in Fällen, in denen eine Klasse von Unterdrückern und eine Klasse von Unterdrückten entstanden ist. Die Unterdrückten zur Ergreifung ihrer Rechte aufzurufen, ist menschlich, und diese Aktion wurde vom Islam und von allen Propheten sowohl empfohlen wie auch ausgeführt. Eine der letzten Verfügungen von 7Ali (a.s.) an seine beiden Söhne war: „Seid immer ein Feind eines Unterdrückers und ein Verbündeter der Unterdrückten."

Was jedoch revolutionäre Führer im Gegensatz zu den Propheten nicht zu tun in der Lage sind, ist, den Menschen zu veranlassen, sich gegen das Selbst zu erheben und ihn bereuen zu lassen; die Propheten können auch die Unterdrücker veranlassen, sich gegen ihre eigenen üblen Taten zu erheben. Man findet in der Geschichte des Islam viele Menschen wie Abu Sufyan und Abu jahl, gegen die die armen und schwachen Menschen sich erhoben haben, und auch Tyrannen wie diese haben gegen sich selbst rebelliert.

Imam Musa ibn ja3far ging über einen Markt in Bagdad. Aus einem Haus hörte er Musik und Vergnügungen. Als er vorbeiging, sah er ein Dienstmädchen, das mit einem Eimer Abfall herauskam. Er fragte sie, ob der Besitzer des Hauses ein freier Mann oder ein Sklave sei. Das Mädchen wunderte sich über diese Frage und antwortete, dass er natürlich ein freier Mann sei und ein Mann von Bedeutung in dieser Stadt. Es dauerte eine Weile, bis sie in das Haus zurückkehrte. Der Herr fragte sie, warum sie so lange weg gewesen sei. Sie erzählte ihm von ihrem Gespräch mit dem Mann und gab ihm eine Beschreibung von ihm. Sie sagte, seine letzte Bemerkung sei gewesen, dass wenn der Herr dieses Hauses sich nicht selbst als freier Mensch ansehen würde, er sich nicht mit derartigen Vergnügungen und einem solchen Rummel beschäftigen würde.

Der Mann erkannte aufgrund ihrer Beschreibung, dass der Mann niemand anderes gewesen war als der Imam. Er gab sich selbst nicht einmal die Zeit, seine Schuhe anzuziehen, und rannte barfuß zur Tür, um den Imam zu sehen. Er rannte in die Richtung, von der man ihm gesagt hatte, dass der Imam sie eingeschlagen habe, und als er ihn erreicht hatte, kniete er nieder und sagte: „Ihr hattet recht. Ich bin ein Sklave, doch ich wusste es nicht. Von dieser Stunde an will ich Gottes Diener sein und mit meiner Reue beginnen."

Er kehrte nach Hause zurück und warf alles Vergnügliche weg, und von da an ging er barfuß durch die Straßen Bagdads und erhielt den Spitznamen

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„der barfüßige Mensch". Er wurde nach dem Grund gefragt, warum er keine Schuhe trage, und er antwortete: „Da ich die Ehre hatte, den Imam zu treffen wie ich nun bin, möchte ich die Erinnerung daran bewahren, indem ich barfuß gehe."

Was die Angelegenheit des jüdischen Stammes Qurayca anbelangt, die gegen den Islam und die Muslime verräterisch gehandelt hatten, so entschied der Prophet, das Problem gütlich beizulegen. Er wurde gebeten, Abul-Baba zur Beratung zu entsenden, der ihnen geneigt war. Der Prophet stimmte zu und schickte ihn zu ihnen. Er verletzte dieses Vertrauen durch einige Bemerkungen zugunsten der Juden und gegen die Muslime. Als er nach Medi-na zurückkehrte, schämte er sich wegen seines Tuns und ging nach Hause, nicht um seine Frau und seine Kinder zu sehen, sondern um ein Stück Seil zu holen und zur Moschee des Propheten zu gehen. Er band sich selbst an einer Säule fest und schrie: „O Gott, ich werde mich nicht mehr losmachen bevor nicht meine Reue angenommen ist." Nur für die rituellen Gebete band seine Tochter ihn für einige Momente los und gab ihm etwas Essen, und danach forderte er sie wiederum auf, ihn festzubinden; so verbrachte er viele Stunden lamentierend und sein Tun bedauernd, und er wünschte tot zu sein, es sei denn seine Sünde sei ihm vergeben.

Man erzählte dies dem Propheten und er sagte: „Wenn er zu mir gekommen wäre, hätte ich Gott gebeten, ihm zu vergeben, doch weil er sich direkt an Gott gewandt hat, wird er sich mit ihm beschäftigen." Nach zwei oder drei Tagen wurde dem Propheten offenbart, dass Abul-Baba vergeben war. Als die Leute in Medina das hörten, strömten sie in die Moschee, um ihn zu befreien, doch er bat den Propheten, dies zu tun, was auch geschah.

Jene, die die Pilgerfahrt nach Mekka gemacht haben, wissen, dass auf einem der Pfeiler der Prophetenmoschee geschrieben steht „Pfeiler der Reue". Das ist der Pfeiler, wo Abul-Baba bereute, und zu seiner Zeit war es eine hölzerne Säule. Nach seiner Absolution bot Abul-Baba als Zeichen der Dankbarkeit all seinen Besitz an, damit er auf dem Wege Gottes verwendet werden sollte, doch der Prophet stimmte nicht zu. Er bot zwei Drittel davon an, und wiederum lehnte der Prophet ab. Ein drittes Mal bot er ein Drittel an und der Prophet nahm an. Das war gerecht, weil Abul-Baba die Pflicht hatte, seine Familie zu unterhalten und zu versorgen.

Es wird erzählt, dass ein Mann starb und der Prophet sein Grabgebet verrichtete. Er fragte, wie viele Kinder der Mann gehabt und welchen Besitz er zurückgelassen habe. Sie sagten, es sei ihm gut gegangen, aber er habe seinen Besitz vor seinem Tod gespendet. Der Prophet sagte: „Wenn ich das

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zuvor gewusst hätte, hätte ich nicht für ihn gebetet, denn er hat der Gesellschaft hungrige Kinder hinterlassen."

Es wird auch gesagt, dass wenn ein kranker Mensch vorhat, mehr als ein Drittel seines Besitzes zu spenden, sein Wunsch nicht akzeptabel ist, weil er dies auf seinem Sterbelager getan hat; es ist auch dann nicht akzeptabel, wenn es nicht als Vermächtnis sondern als gewöhnliche Übereignung gehandhabt wird.

Ich habe diese Frage der Reue während dieser Nächte diskutiert, weil diese heiligen Nächte des Wachens die beste Zeit sind für Reue und das Erbitten der Vergebung Gottes, so dass man von seinen Sünden freigesprochen wird. Doch in dieser Reue müssen alle Bedingungen, die ich erwähnt habe, erfüllt sein.

Ein anderes Beispiel der Reue war Zuhayr ibn al-Qayn, der ein Gefährte Imam Husayns (a.s.) wurde. Er war einer der Anhänger Uxmans, der glaubte, dass 7Ali (a.s.), Gott verhüte, seine Hand im Spiel hatte bei der Ermordung Utmans. Er kehrte aus Mekka nach Irak zurück und da Imam Husayn (a.s.) den gleichen Weg eingeschlagen hatte, fragte er sich, ob er den Imam treffen würde oder nicht. Weil er im Herzen ein aufrichtiger Gläubiger war, fürchtete er, dass der Imam als der Enkelsohn des Propheten ihn vielleicht um etwas bitten würde, was er nur ungern tun würde, was wiederum sehr schlecht sein würde und so hielt er sich vom Imam fern. Doch an einem der Halteplätze trafen sie sich gleichzeitig an einem Brunnen. Der Imam schickte jemanden, der Zuhayr zu ihm brachte. Als Führer des Stammes aß Zuhayr mit seiner Familie und seinen Gefährten im Zelt. Er wurde blass, als er von der Aufforderung hörte und sagte: „Was ich nicht wünschte ist geschehen."

Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte eine sehr gläubige Frau, die zu ihm sprach: „Schämst du dich nicht, zu zögern, dem Ruf des Enkelsohns des Propheten, den du als eine Ehre ansehen solltest, zu folgen? Geh sogleich." Unwillig stand Zuhayr auf und ging, um den Imam zu treffen. Niemand weiß, was zwischen ihnen vor sich ging, doch als Zuhayr zurückkam, sah er völlig verändert aus. Er war nun sehr froh und heiter. Wir wissen nicht, wie der Imam ihn veränderte, doch eine heilige Veränderung hatte in ihm stattgefunden. Sofort begann er, Anweisungen über seinen letzten Willen hinsichtlich seines Besitzes und an seine Familienmitglieder zu geben und beeilte sich, den Imam zu treffen. In Kerbala war er an der vordersten Linie der Anhänger des Imams, wo er mit ihnen allen Märtyrer wurde. Als seine Frau einen Diener schickte mit einem Leichentuch für seinen Körper,

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sah der Diener einen schändlichen Anblick. Nicht nur Zuhayrs Körper fehlte ein Leichentuch, sondern auch dem Körper seines Herrn.

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7. Migration und Anstrengung auf dem Weg Allahs

Und wer für die Sache Allahs auswandert, der wird auf Erden genug Stätten der Zuflucht und der Fülle finden. Und wer seine Wohnung verlässt und zu Allah und seinem Gesandten auswandert und dabei vom Tode ereilt wird, für dessen Lohn sorgt Allah, und Allah ist allverzeihend, barmherzig. " (Sure an-Nisa', Vers 100).

Die heilige Religion des Islam gründet auf den beiden Pfeilern HiJra, d. h. Auswanderung auf dem Wege Gottes und jihad, d. h. spirituelle und religiöse Anstrengung auf dem Wege Gottes, der Qur'an bezeichnet beides als heilige Pflichten und lobt jene, die sie in die Tat umsetzen.

Auswanderung bedeutet, dass man sein zu Hause verlässt und um des Glaubens und der Religion willen zu einem anderen Ort aufbricht. In vielen Qur'anversen ist davon die Rede. Die Muslime bestanden in der Frühzeit des Islam aus zwei Gruppen: den Emigranten (al-MuhaJirun), jenen Muslimen, die in der Frühzeit des Islam ihre Heimatstadt Mekka um des Islam willen verließen, und den Helfern (al-'Ansar), jenen Medinensern, die den Emigranten aus Mekka ihre Hilfe und Unterstützung zuteil werden ließen. HiJra und jihad können nicht abgeschafft werden; beides sind dauerhafte Gebote, die zu jeder Zeit und unter den entsprechenden Umständen notwendig werden.

Um Missverständnisse von vornherein zu beseitigen, müssen wir erwähnen, dass es von beiden Begriffen auch andere Interpretationen gibt. So wurde der Begriff HiJra auch auf das Aufgeben von Sünden bezogen. Trifft diese Interpretation des Begriffes „HiJra" zu? Wenn ja, dann wären Emigranten alle Bereuenden in der Welt, die fortan Sünden vermeiden. Zwei Beispiele mögen dies verdeutlichen: Fuwayl bin Iyad und Bapir Hafi. Fuwayl war anfangs ein Dieb, doch dann machte sein Herz eine Veränderung durch: er bereute aufrichtig und mied alle Sünden. Danach war er nicht nur als ein tugendhafter Mensch, sondern auch als Führer und Lehrer für andere bekannt. Er war einmal auf eine Mauer gestiegen, um in ein Haus einzudringen. In diesem Haus verbrachte ein gottergebener Mensch die Nacht im Gebet und mit dem Lesen des Qur'an. Fuwayl bin Iyad hört den Mann mit melodiöser Stimme einen Qur'anvers rezitieren. Als er dies, auf der Mauer sitzend hörte, dachte er: „Es ist eine Offenbarung, die direkt an mich gerichtet ist. Ja, o mein Gott, es ist an der Zeit - genau in diesem Moment." Er stieg von der Mauer herab und von diesem Moment an gab er das Stehlen, Trinken und Spielen und alle anderen Sünden auf, denen er sich hingegeben

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hatte. Er gab so viel Besitz wie möglich an die rechtmäßigen Besitzer zurück und holte seine versäumten gottesdienstlichen Pflichten nach. In diesem Sinne war er ein Emigrant von der Sünde.

Zu Lebzeiten von Imam Musa al-Kacim (a.s.) wohnte in Bagdad ein Mann namens Bapir Hafi, ein Aristokrat, der Vergnügungen liebte. Bereits im letzten Gespräch über Reue war von ihm die Rede. Als der Imam eines Tages am Hause dieses Mannes vorbeikam, kam gerade ein Dienstmädchen heraus, um den Abfall wegzubringen. Gleichzeitig war aus dem Hause Musik zu hören. Der Imam fragte das Dienstmädchen, ob dieses Haus einem freien Menschen oder einem Sklaven gehörte. Das Dienstmädchen war verwundert und sagte: „Das ist das Haus von Bapir Hafi. Wie sollte er ein Sklave sein?" Der Imam sagte: „Er muss frei sein, wenn er sich mit solchen Dingen abgibt, denn wenn er ein Sklave wäre, wäre sein Verhalten anders." Dann setzte er seinen Weg fort.

Als das Mädchen dies ihrem Herrn erzählte, veränderte er sich: von jener Minute an wollte er einzig und allein ein Knecht Gottes sein. Er bereute sein früheres Verhalten, beseitigte alles Unnütze aus seinem Haus und begann ein Leben in Tugendhaftigkeit und Gottergebenheit. Er kann somit als ein Emigrant von der Sündhaftigkeit angesehen werden.

Es gibt eine ähnliche Interpretation bezüglich jihad. Es wird gesagt, dass ein MuJahid jemand ist, der sein Selbst und seine Triebe bekämpft. Imam 3Ali (a.s.) sagte: „Der tapferste Mensch ist derjenige, der seine eigenen Wünsche erobert."

Eines Tages ging der heilige Prophet (s.a.s.) durch die Straßen Medinas. Er sah eine Reihe Jugendlicher, die einen Wettbewerb veranstalteten, bei dem ein schwerer Stein hochzuheben war. Der Prophet (s.a.s.) fragte, ob er in ihrem Wettkampf als Richter fungieren solle. Sie stimmten eifrig zu. Dann sagte der Prophet: „Es ist nicht notwendig, dass ihr den Stein hochhebt, um zu sehen, wer von euch der Stärkste ist. Ich kann euch sagen, dass der Stärkste derjenige ist, der in der Lage ist, sich selbst zu kontrollieren, wenn es ihn nach einer Sünde gelüstet. Ein solcher Mensch ist wahrhaftig ein tapferer Kämpfer."

Von einem großen Helden, Puriaye Wali, wird erzählt, dass er ein Symbol sowohl der Ritterlichkeit wie auch der Mannhaftigkeit war. Er besuchte einmal ein anderes Land, wo er mit dem dortigen Landesmeister einen Wettkampf veranstalten sollte. Auf der Straße begegnete ihm eine alte Frau, die den Menschen Süßigkeiten anbot und sie bat, für ihren Sohn zu beten. Sie kam auch zu Puriaye und bot ihm ihre Süßigkeit an. Er fragte sie nach dem

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Grund ihres Tuns. Sie sagte: „Mein Sohn ist der Meister dieses Landes und wurde von dem Meister des Nachbarlandes herausgefordert. Wir leben von dem Geld, das er mit seinen Kämpfen verdient, und wenn er diesen Kampf verliert, so fürchte ich, werden wir nichts mehr zum Leben haben." Puriaye sagte, dass er sich in jenem Moment an einer Kreuzung sah, wo er sich entscheiden musste, ob er im Kampf seine Stärke oder seine Ritterlichkeit zeigen wolle. Obwohl er sehr viel stärker war als sein Gegner, kämpfte er so, dass der andere gewann. Er sagte, dass er in diesem Moment plötzlich fühlte, dass sein Herz von Gott geöffnet worden war, und es schien ihm, als sei er von Engeln umgeben; er bekämpfte seinen eigenen Wunsch und gelangte somit zu den Reihen der Heiligen.

Es gibt eine andere Geschichte über 3Ali (a.s.) und 3Amr, der für seinen Heldenmut berühmt war. Im Grabenkrieg standen sich die Muslime und ihre Feinde auf beiden Seiten des Grabens gegenüber. Einigen der Ungläubigen einschließlich 3Amr gelang es, auf die Seite der Muslime zu gelangen und forderten diese heraus. Der Prophet (s.a.s.) fragte, wer die Herausforderung annehmen würde, doch niemand bewegte sich außer einem jungen Mann, nämlich 3Ali (a.s.). Der Prophet ließ ihn zunächst nicht gehen. Doch nachdem sich keiner der anderen Muslime 3Amr zum Kampf stellen wollte, stellte sich ihm 3Ali schließlich entgegen. Er besiegte diesen großen Helden und kniete schließlich auf ihm. Doch 3Amr spuckte ihn aus Zorn über seine Niederlage ins Gesicht. 3Ali (a.s.) war sehr böse über das Verhalten des Mannes. Er stand auf und ging einige Augenblicke hin und her, um sich zu beruhigen. Als 3Amr ihn fragte, warum er zögere, ihn zu töten, sagte er: „Ich wollte dich nicht im Zorn töten, denn ich kämpfe für Gott und in dieser Pflicht gibt es keinen Raum für Zorn." So ist ein tapferer Kämpfer.

Eine andere Interpretation von jihad spricht den Kampf gegen das eigene Selbst an. Der Prophet (s.a.s.) bezeichnete diesen als größeren jihad. Doch einige Menschen wurden durch diese Interpretation abgelenkt; sie verstanden HiJra nur als Aufgeben von Sünden und jihad nur als Kampf gegen das Selbst. Sie vergaßen, dass Auswanderung auch bedeutet, einen unerwünschten Ort aufzugeben und jihad auch das Bekämpfen äußerer Feinde umfasst. Das islamische Verständnis umfasst also zwei Arten von Auswanderung und von Anstrengung auf dem Wege Gottes. Wenn wir eine von beiden Arten unter dem Vorwand der jeweils anderen negieren, haben wir uns von den Lehren des Islam getrennt.

Die Heiligen unserer Religion einschließlich der heiligen Propheten und der Imame waren alle Kämpfer und Emigranten auf dem Wege Gottes. Von

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einer spirituellen Sichtweise her gesehen gibt es Stufen, die nicht erreicht werden können, ausgenommen durch diese Handlungen. Ein Mensch, der niemals das Feld des jihad betreten hat, kann nicht MuJahid genannt werden, und jemand, der nicht emigriert ist, kann nicht das Wort Emigrant für sich in Anspruch nehmen.

Aus islamischer Sicht ist die Ehe in vielerlei praktischer Hinsicht heilig, im Gegensatz zum Christentum, wo das Zölibat als heilig angesehen wird. Was ist der Grund dafür? Einer der Gründe ist die Erziehung des menschlichen Geistes. Es ist eine Art der Reife und Vollkommenheit, die nur mittels der Heirat erlangt werden kann. Wenn ein Mann oder eine Frau ledig bleibt bis an das Ende seines bzw. ihres Lebens, auch wenn dieses Leben in Enthaltsamkeit, Hingabe an Gott, Gebet und Kampf mit den Sünden verbracht wird, dann gibt es noch immer eine Art der Unreife in jedem von ihnen. Das ist der Grund, warum Heirat als eine notwendige Tradition empfohlen wird.

Die in der Erziehung des Menschen wirksamen Faktoren sind dies in ihren jeweiligen Bereichen und keiner von ihnen kann den Platz eines anderen einnehmen. Ebenso sind HiJra und jihad Faktoren, die weder durch einen anderen Faktor ersetzt werden können, noch kann ein Aspekt eines jeden Faktors den Platz des anderen Aspekts einnehmen.

Worin besteht die Pflicht des Menschen im Hinblick auf die jeweils unterschiedlichen Bedingungen, denn nicht alle Umstände machen jihad und HiJra notwendig?

Der heilige Prophet (s.a.s.) hat gesagt, dass es die Pflicht eines Muslims ist, in dieser Hinsicht aufrichtig zu sein, d. h. wenn er die Absicht hat, auf dem Wege Gottes HiJra oder jihad zu machen, weil die Umstände dies erfordern. Ein Muslim, der niemals gekämpft hat oder niemals daran gedacht hat, zu kämpfen, stirbt in einem Zustand von Heuchelei, während jene, die unter den entsprechenden Bedingungen allein die Absicht hegen, zu emigrieren oder zu kämpfen, bereits den Stand der MuhaJirun und MuJahidun erreichen können. Der Heilige Qur'an sagt: „Die unter den Gläubigen, die daheim bleiben - ausgenommen die Gebrechlichen -, und die, welche für Allahs Sache ihr Gut und Blut im Kampf einsetzen, sind nicht gleich. Allah hat die mit ihrem Gut und Blut Kämpfenden über die, die daheim bleiben, im Rang um eine Stufe erhöht. Jeden von beiden aber hat Allah Gutes verheißen; doch die Kämpfenden hat Allah vor den Daheimbleibenden durch großen Lohn ausgezeichnet. " (Sure an-Nisa, Vers 95).

Gott macht hier deutlich, dass die MuJahidun die mit ihrem Reichtum und ihrem Leben auf seinem Weg kämpfen, und jene, die (in Ungehorsam zum

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Qur'an) unter dem Vorwand, dass „diejenigen, die bereit sind zum Kämpfen, genug sind" nicht gleich sind. Der Heilige Qur'an tadelt nicht jene, die wegen Krankheit usw. in ihren Häusern bleiben, aber so denken und eingestellt sind, dass sie selbst die ersten wären, die den jihad auf dem Wege Gottes aufnehmen würden, wenn sie nur dazu in der Lage wären. Vielleicht sind auch sie auf der gleichen Ebene wie die MuJahidun.

Als 3Ali (a.s.) von der Schlacht von Siffin zurückkehrte, kam jemand zu ihm und sagte: „Ich wollte, mein Bruder wäre bei dir gewesen in diesem Kampf." 3Ali (a.s.) sagte: „Was war seine Absicht? Hatte er eine Entschuldigung oder nicht? Wenn er keine Entschuldigung dafür hat, dass er nicht mit uns kämpfte, dann war es besser, dass er nicht dabei war. Wenn jedoch sein Herz mit uns war, obwohl er uns aus irgendeinem Grund nicht begleiten konnte, dann kann er so angesehen werden, als wäre er bei uns gewesen."

Im bisherigen Verlauf wurde deutlich, dass HiJra und jihad im Qur'an zusammen erwähnt werden. Nun möchte ich ausführen, wie diese beiden Verpflichtungen zur spirituellen und sozialen Erziehung und Vervollkommnung des Menschen beitragen. Wenn wir den Geist von HiJra und jihad entdecken wollen, sollten wir bedenken, dass Auswanderung bedeutet, sich selbst von bestimmten unerwünschten Bindungen zu befreien, und jihad bedeutet, einen Feind und das Selbst zu bekämpfen. Ohne diese beiden Güter wäre der Mensch elend und versklavt und müsste in einer materiellen und spirituellen Umgebung, in der es völlig an spiritueller Freiheit mangelt, in Erniedrigung leben.

Wenn wir Auswanderung als Reisen von einem Ort zu einem anderen verstehen, dann stellt sich die Frage, ob Reisen besser ist als Bleiben. Im Islam wird Reisen gut geheißen, wenn auch nicht als ständiger Zustand. Ebenso wird es als eine Art der Versklavung angesehen, wenn man sein ganzes Leben lang in einem Dorf oder einer Stadt bleibt, denn dies schwächt Seele und Geist.

Reisen ist insbesondere in Verbindung mit Wissen sehr nützlich. Auch das Lesen von Büchern kann nicht die Erfahrung vermitteln, die das Reisen im Geist hervorruft. Wenn man nicht in islamische Länder reist, kann man z.B. die islamische Welt und ihre Probleme nicht wirklich kennen. Deshalb sagt uns der Qur'an: „Reist auf der Erde umher... " (An-Naml, Vers 69). Die Historiker sind sich darin einig, dass es notwendig ist, die Geschichte zu studieren; aber der Qur'an beschränkt das Studium der Geschichte nicht auf die Lektüre historischer Literatur. Er empfiehlt, die historischen Monumente und Relikte zu besuchen, zu denen eine Reise möglich ist. In einem Aus-

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spruch von Imam 7Ali (a.s.) werden wir aufgefordert, im Meer der Kenntnis und der Auszeichnung zu reisen, und aus den Reisen fünferlei Nutzen zu ziehen, nämlich folgende:

Die Beseitigung von Sorgen aus dem Herzen; denn solange man in seiner Umgebung verhaftet ist, sind die Gedanken erfüllt von Kummer und Traurigkeit und so fühlt man sich zumindest für einige Zeit von ihrer Last befreit; Verdienen des Lebensunterhalts, denn wenn man klug genug ist, kann man durch Reisen seine finanziellen Möglichkeiten vielleicht eher verbessern, als wenn man immer an einem Ort bleibt; Wissen erlangen, denn Reisen vergrößern durch den Kontakt mit den Menschen jener Orte, die man besucht, und durch das Kennen lernen ihrer Welt und ihrer Gedanken das eigene Wissen; auf Reisen werden die Menschen mit allerlei Bräuchen bekannt, die einem vielleicht sogar besser erscheinen als die in der Heimat gebräuchlichen, und dadurch kann man sein eigenes Verhalten verbessern; schließlich ergeben sich auf einer Reise oftmals neue Kontakte mit anderen Menschen bis hin zur Freundschaft, und diese können ebenfalls den eigenen Geist positiv beeinflussen.

Die Geschichte zeigt, dass gelehrte Menschen, die von ihren Reisen zurückkehrten, eine Reife erlangt hatten, die sie zuvor nicht hatten. Payv Ba-ha'i ist wegen seiner vielen Reisen ein gutes Beispiel für Vielseitigkeit unter den gelehrten Menschen. Der Dichter Sa7di ist ein weiterer Reisender, der sein großes Wissen und seine Erfahrung in seinen Werken widerspiegelt. Er verbrachte dreißig seiner neunzig Lebensjahre mit Studien und weitere dreißig Jahre mit Reisen in verschiedene Teile der Welt, und nach dieser Zeit schuf er seine besten Werke. In seinen Büchern Gulistan und Bustan bezieht er sich auf Orte in Indien, Arabien und auf viele andere Länder, die er besucht hat, und er schrieb schöne Anekdoten über unterschiedliche Ereignisse, die er hier und dort erlebte.

Rumi ist ein weiterer weit gereister Dichter, der verschiedene Länder, ihre Sprachen und Kulturen kannte. Hafic jedoch zeigt trotz seiner tief spirituellen Gedichte eine größere Begrenztheit auf, weil er nicht reisen mochte und es vorzog, sein Leben in seinem geliebten Schiraz zu verbringen. Einmal wurde er von einem indischen Herrscher eingeladen, dieses Land zu besuchen. Er kam bis zum Persischen Golf, überlegte es sich wieder anders und entschloss sich, nach Schiraz zurückzukehren und dort zu bleiben.

Offenbar gibt es einen Unterschied zwischen Payv Baha'i, der die ganze Welt bereist hat, und einem Geistlichen, der fünfzig Jahre in NaJaf geblieben ist. Viele unserer Geistlichen, die gereist sind und mit anderen Gelehrten

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in Kontakt getreten sind, haben sich als weitaus liberaler erwiesen als andere, die ihnen an Talent zwar nicht unterlegen waren, jedoch immer in einer begrenzten Umgebung gelebt hatten.

Wenn man also HiJra als das Abschaffen eines unerwünschten spirituellen Umstandes versteht, sollte man nicht annehmen, dass damit das tatsächliche Verlassen eines Ortes ausgeschlossen ist. Beide Arten der Auswanderung sind wichtig, nämlich sich selbst geographisch von einer Stadt, einem Gebiet, einem Klima etc. zu befreien und sich selbst von Gewohnheiten und Eigenschaften zu befreien, die die eigene Versklavung verursachen.

Es ist nur natürlich für einen Menschen, dass er bestimmte Gewohnheiten erwirbt und bestimmte soziale Traditionen und Sitten befolgt. Diejenigen, die gewöhnlich rauchen, sagen dem Arzt, der sie anweist, nicht zu rauchen, dass sie diese Gewohnheit nicht aufgeben können. Doch das ist nicht menschlich. Man sollte in der Lage sein, sich von dem zu trennen, was schädlich ist. Man ist nicht menschlich, wenn einem die Fähigkeit fehlt, sich von der Sünde zu lösen.

Vom Kalifen Ma'mun wird erzählt, dass er Erde aß. Die Ärzte beratschlagten sich, um einen Weg zu finden, mit dem sie ihn von dieser außergewöhnlichen Gewohnheit abzubringen versuchten. Sie brauten etwas zusammen und verschrieben dieses und jenes, doch es hatte keinen Nutzen. Eines Tages kam ein in Lumpen gekleideter Mann an ihre Tür und sagte. „Ich habe ein Heilmittel dafür: einen königlichen Entschluss." Ma'mun fühlte sich gedemütigt und sagte, dass dies wahr war und konnte somit diese Gewohnheit loswerden.

Die Bedeutung von HiJra ist die Wiederbelebung der menschlichen Persönlichkeit und die Bekämpfung eines Faktors, der die Hauptursache menschlicher Erniedrigung ist. Ein Mensch sollte genügend Selbstrespekt haben, um seine Freiheit und Unabhängigkeit nicht gegen Abhängigkeit und Sklaverei gegenüber einer Umgebung oder Gewohnheiten und Sünden einzutauschen. Somit ist HiJra in diesem Sinne ein notwendiger Faktor der Selbstverbesserung.

jihad bedeutet Anstrengung, nämlich die eigenen Wünsche zu bekämpfen und Hindernisse zu beseitigen. Der Qur'an sagt, dass die Engel, wenn sie kommen, um die Seelen der Menschen zu nehmen, und die schwarzen Akten über deren Tun in dieser Welt sehen, sie nach dem Grund dafür fragen. Und die Menschen antworten, dass sie hilflos waren und in einer schlechten Umgebung lebten, wo sie nichts tun konnten. Die Engel antworten darauf, dass dies kein Grund für derartiges Handeln sei.

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Ein Baum kann eine solche Entschuldigung geben, weil er fest verwurzelt ist und nicht irgendwo anders hingehen kann, um seiner schlechten Umgebung zu entkommen. Doch selbst Tiere können eine solche Entschuldigung nicht vorbringen, denn auch sie sind in der Lage anderswo hinzugehen. Tauben, Gänse, Schwalben und viele andere Vogel- und Tierarten und sogar Fische durchziehen in den verschiedenen Jahreszeiten unterschiedliche Gebiete und Gewässer. Heuschrecken und andere Insekten ziehen in Schwärmen in immer neue Gebiete. Kein Lebewesen ist im Boden und in den Steinen verwurzelt. Warum sollte also ein Mensch dies von sich meinen? Es ist keine Entschuldigung, zu sagen, dass der Feind keinen anderen Ausweg lasse als Unterwerfung und Ergebung. Es ist die Pflicht des Menschen, zu einer Position der Stärke aufzubrechen und dem Feind die gleiche Behandlung zukommen zu lassen. Dies wird jihad genannt.

Die spirituelle Interpretation von jihad ist ähnlich. Man weist Menschen an, keine Lügen zu erzählen und sie sagen, dass sei unmöglich. Oder man sagt ihnen, sich im Gebet allein auf Gott und heilige Dinge zu konzentrieren und sich keinerlei andere Gedanken dabei zu erlauben. Wiederum denken sie, dass sei unmöglich. Warum sollte ein Mensch eine Niederlage davontragen? Gott hat ihn nicht erschaffen, dass er von anderen Geschöpfen besiegt wird. Er hat ihm ausreichend Freiheit gegeben, um das Selbst von allen Arten von Fesseln zu befreien, um gegen die eigenen Launen, gegen die Liebe zu Vergnügen und Luxus zu kämpfen. Er kann zwischen Freiheit und Unterwerfung wählen. Wer seine Wünsche nicht beherrschen und unter die eigene Kontrolle bringen kann, der wird von ihnen beherrscht werden.

Was war die Philosophie von Imam 7Ali (a.s.) in Bezug auf Askese und Weltentsagung? Geradeso wie er nicht von berühmten Helden im Kampf besiegt werden wollte, hatte er auch nicht den Wunsch, in den Krallen der Begierden gefangen zu sein.

Es ist überliefert, dass er eines Tages an einem Fleischerladen vorbeikam, und der Fleischer forderte ihn auf, ein wenig frisches Fleisch zu nehmen. Der Imam sagte, dass er kein Geld bei sich habe. Der Fleischer erwiderte: „Ich kann darauf warten." Daraufhin sprach Imam 7Ali (a.s.): „Und ich werde meinem Magen sagen, zu warten." Er hätte sich leicht mit dem besten Fleisch versorgen und mit den feinsten Kleidern ausstatten können, doch er lehnte es ab, der Sklave weltlicher Dinge zu sein. Sein Wunsch war es, frei von allen Arten von unerwünschten Fesseln zu sein.

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8. Glaube an das Verborgene

„...Die an das Verborgene glauben und das Gebet verrichten und von dem ausgeben, was wir ihnen beschert haben. " (Sure al-Baqara, Vers 3).

Es ist üblich, dass wir einen individuellen Gläubigen als Mu'min bezeichnen, womit gemeint ist, dass er ein frommer Mensch ist, der Glauben hat, dass er all die verpflichtenden Handlungen der Hingabe wie auch empfohlene Handlungen erfüllt. Auf die gleiche Weise sagt man von einem anderen Menschen, dass er ohne Glauben ist. Es schadet nichts, jene Worte zu gebrauchen, denn auch der Qur'an gebraucht dieselben Worte, nämlich an die Religion glauben oder keinen Glauben an die Religion haben. So müssen wir unsere Diskussion damit beginnen, Glaubensüberzeugungen als eine Angelegenheit des Herzens anzusehen. Der Qur'an sagt, an eine Gruppe nomadischer Araber gerichtet, die zum Propheten kamen und sagten: „Wir glauben": „Ihr glaubt nicht; sagt vielmehr: ,Wir ergeben uns', und der Glaube ist noch nicht in eure Herzen eingedrungen. " (Sure al-HuJurat, Vers 14).

Ist dies ein Glaube an Gott oder Seine Eigenschaften oder an seinen Propheten und die Offenbarung oder die Auferstehung? Dies alles sind Teile des Glaubens, doch der Qur'an fasst diese im ersten Vers der zweiten Sure zusammen: „Dies ist das Buch, das keinen Anlass zum Zweifeln gibt, es ist eine Rechtleitung für die Gottesfürchtigen, die an das Verborgene glauben..." (Sure al-Baqara, Vers 1).

Verborgen bedeutet unsichtbar. Verborgen vor was? In diesem geschlossenen Raum ist das, was sich hinter diesen Mauern verbirgt, vor uns verborgen; wenn wir uns jedoch dessen sicher sind, was hinter ihnen geschieht, ist das dann Glaube an das Unsichtbare? Nein, morgen ist es vor uns verborgen, aber wenn wir voraussagen können, was morgen geschehen wird, ist dies dann Glaube an das Unsichtbare? Wiederum: nein. Was ist dann das Unsichtbare?

In dieser Welt gibt es Dinge, die mit den Sinnen des Sehens, Hörens, Tas-tens, Riechens und Schmeckens verstanden werden können. Wir nennen Dinge wahrnehmbar, wenn unsere Sinne uns in diese Lage versetzen, sie zu kennen. Auch Tiere besitzen diese Sinne, die manchmal stärker sind als die des Menschen. Einige Tiere besitzen eine schärfere Sicht als der Mensch. Ein Hund hat ein sehr empfindliches Ohr und einen sehr empfindlichen Geruchssinn. Die winzige Ameise kann leicht ihren Weg zu einem Stück Fleisch finden mit Hilfe ihres starken Geruchssinnes. Doch diese Kräfte

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stehen nicht in Bezug zum Unsichtbaren. Glaube an das Unsichtbare bedeutet zuzugeben, dass es in der Welt der Existenz bestimmte Tatsachen gibt, die wir mit unseren Sinnen nicht unterscheiden können, selbst wenn sie vor uns gegenwärtig sind. Die den Lebewesen gegebenen Sinne sind nur begrenzte Mittel zum Kontakt mit der Welt außerhalb jedes Geschöpfes. Die Augen sind gegeben, um Form, Farbe und Richtung zu unterscheiden. Die Ohren sollen Schallwellen unterscheiden. Auch die anderen Sinne wurden für bestimmte Zwecke gegeben. Aber wenn wir andere Tatsachen über unsere Sinne hinaus nicht unterscheiden können, können wir dann sagen, dass sie nicht existieren?

Nein, das ist falsch. Der größte Fehler, den der Mensch macht, ist es, anzunehmen, dass alle diese Sinne, die jemand hat, geeignet sind, um zu verstehen was auch immer existiert und zu negieren, was für einen nicht unterscheidbar ist. Alle die Dinge, an die ein Mensch glauben sollte, werden vom Qur'an mit dem Begriff des Verborgenen ausgedrückt. Wenn wir diese nicht mittels unserer Sinne unterscheiden können, wie sollten wir sie akzeptieren? Andere Wege und Mittel werden uns zur Verfügung gestellt, um an das Unsichtbare zu glauben. Der Qur'anvers bezüglich des Glaubens an das Unsichtbare bedeutet nicht, dass wir jede verborgene Angelegenheit akzeptieren sollten, einfach weil wir Glauben haben. Wenn ein Exorzist behauptet, dass er eine Armee von Dschinns habe, sollten wir ihm nicht einfach glauben, weil er vom Verborgenen spricht. Doch wir müssen das Unsichtbare insgesamt auch nicht leugnen.

Wenn wir gefragt würden, was die Wege zum Glauben an das Unsichtbare sind, würden wir sagen, dass es Stufen gibt. Die erste Stufe ist es, die verschiedenen Zeichen zu unterscheiden, die es unmöglich machen, es zu leugnen. Es bedeutet von der Stufe der Leugnung in die Stufe des Zweifels einzutreten.

Lassen Sie mich ein Beispiel geben. In der Vergangenheit war die einzige Welle, die im Weltraum erkannt wurde, die Schallwelle, die verglichen wurde mit Wellen, die geschaffen werden, wenn man einen Stein in einen Teich wirft. Heute jedoch hat die Wissenschaft andere Wellen entdeckt, die von unseren Ohren oder einem unserer anderen Sinne nicht unterschieden werden können wie z. B. elektrische Wellen oder Radiowellen, die keine Schallwellen sind. Denn wenn es sich um Schallwellen handeln würde, würde es ähnlich wie bei Schallwellen eine Zeit dauern, bis sie gehört werden könnten. Zuweilen wird gesagt, dass der Klang von Big Ben in London ü-

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berall auf der Welt gehört wird bevor er von den Leuten in seiner nächsten Umgebung gehört wird.

Wie kann jemand unterschiedliche Wellen im Weltraum unterscheiden, die keine Schallwellen sind? Nur durch wissenschaftliche Mutmaßung, nicht durch Sinne. Somit zeigt die Leugnung der Existenz solcher Wellen nur Unwissenheit.

Ist der Glaube an das Unsichtbare ein Glaube an Gott, an die Engel, an das Buch und die Offenbarung, an die Auferstehung? Nein. Er ist höher als das. Er bedeutet Glaube an eine Beziehung zwischen einem selbst und dem Unsichtbaren und nicht, sich die beiden als völlig voneinander getrennt vorzustellen. Wenn wir in unserem Gebet sagen: „Dir allein dienen wir, und dich allein bitten wir um Hilfe." (Al-Fatiha, Vers 5) zeigen wir, dass wir den verborgenen Gott anbeten und Seine Unterstützung erbitten, weil wir glauben, dass alle Macht in seinen Händen liegt. In einem Bittgebet erbittet man seine Stärke für den eigenen Körper, die Entschlusskraft und das Denken. Doch wofür ist das?

Es wird gesagt, dass der Unterschied zwischen der göttlichen Philosophie und der Religion ist, dass erstere höchstens glauben kann, dass es keinen Gott gibt abseits des Universums, während in der Religion die Hauptsache die Beziehung zwischen einem Geschöpf und seinem Schöpfer ist, zwischen uns und dem Verborgenen, das er etabliert und das uns zu gottesdienstlichen Handlungen und Anstrengungen veranlasst und uns zur gleichen Zeit sagt, dass uns aufgrund unserer Beziehung mit dem Verborgenen durch unsere Bittgebete irgendwie geholfen wird, unser Ziel zu erreichen. Er weist uns zum Bittgebet an. Natürlich erfordert das Gebet einige Bedingungen, damit es erfüllt wird. Wir können uns nicht hinsetzen und um Hilfe vom Verborgenen bitten.

Der Qur'an sagt über die Propheten: „..und gedenket der Gnade Allahs gegen euch, da ihr Feinde wart, und er eure Herzen so zusammenschloß, dass ihr durch Seine Gnade Brüder wurdet; und da ihr am Rande einer Feuergrube waret, und er euch ihr entriss. " (Al-'Imran, Vers 103).

Das ist Hilfe vom Verborgenen. Manchmal fühlt man, dass wenn man ein bestimmtes von Gott bestimmtes Ziel verfolgt, man verborgene Hilfe und Unterstützung erhält über das hinaus, was man denkt oder versteht, und ein solcher Glauben verleiht einen Halt, der im Leben sehr nötig ist.

Ich erinnere mich an eine Begebenheit mit Ayatollah Burrudjerdi, einer wahrhaft tugendhaften und feinen Autorität, der man in religiösen Fragen nachfolgen kann. Er war ein Monotheist höchsten Ranges und hatte eine

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tiefe Überzeugung und tiefes Vertrauen in die Hilfe Gottes für den Menschen. Er hatte geschworen, dass wenn er nach einem operativen Eingriff genesen würde, er eine Pilgerfahrt nach Maschhad machen würde. Er erklärte eines Tages seine Absicht und fragte, wer ihn begleiten würde. Wir diskutierten dies und hielten es nicht ratsam für ihn, diesen Besuch zu machen, denn zu jener Zeit war er nicht so bekannt und wir dachten der ihm zustehende Empfang würde ihm nicht zuteil werden. Wir dachten, dieses Versprechen könne ein oder zwei Jahre später erfüllt werden, wenn die Umstände günstiger seien.

An einem anderen Tag, als er seine Einladung erneut aussprach, sagte ihm einer von uns, dass aufgrund der Tatsache, dass er sich von seiner Krankheit erhole, es zu früh für ihn sei, eine lange Autoreise auf sich zu nehmen. Er verstand den wahren Grund, warum seine Freunde ihm nicht zur Reise rieten. Er sagte. „Ich habe immer darüber nachgedacht, was meine Pflicht ist auf dem Wege Gottes. Ich habe niemals in Erwägung gezogen, ob es über oder unter meiner Würde ist, auf eine bestimmte Art und Weise zu handeln. Was auch geschieht, ist mein Schicksal. Es ist unschicklich, meine Schritte im Alter von siebzig Jahren zu planen, wenn ich Gott und Seine Gunst habe. Wenn ich mich selbst als sein Knecht sehe, wird er mich nicht vergessen. Ja, ich werde abreisen." Und wir wussten, dass er zum höchsten Punkt des Respekts und der Anerkennung bei allen Muslimen aufstieg.

Gott hat die Welt niemals ohne einen Herrn gelassen. Wenn die Menschheit in realer Gefahr ist, rettet er sie durch einen Menschen. Es ist bekannt, wie pessimistisch die aufgeklärten Menschen der Welt wurden, was die Zukunft der Menschheit anbelangt. Wir Muslime wissen diesen Segen nicht richtig zu würdigen, so dass wir wie unsere Vorfahren vor hundert Jahren sagen, dass die Welt weitere tausend oder hunderttausend Jahre existieren wird.

Einige aufgeklärte Menschen behaupten, dass der Verfall der Menschheit nah ist und Einstein ist jemand, der daran glaubte. Er sagte, dass der Mensch aller Wahrscheinlichkeit nach sich selbst zerstören wird mit all der ihm zur Verfügung stehenden Geschicklichkeit, weil der westliche wissenschaftliche Fortschritt die Macht gegeben hat, die Menschheit zu zerstören. In der Vergangenheit war diese Zerstörungskraft sehr begrenzt. Nero brannte Rom nieder, aber konnte er die ganze Welt niederbrennen? Heute jedoch könnte ein verrückter Diktator die ganze Welt der Menschheit vernichten. Bis jetzt war in einem Krieg die eine Seite siegreich und die andere Seite geschlagen. Doch im nächsten Weltkrieg wird es keinen Sieg und keine Niederlage ge-

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ben, weil beide Seiten zerstört werden. Diese offensichtlichen Gründe lassen uns mit den Pessimisten übereinstimmen.

Es gibt jedoch eine Inspiration, die wir von der Religion erhalten. Wir sehen, dass in der Vergangenheit große Gefahren geschehen sind auf kleineren Ebenen in Proportion zu Stämmen, Ländern oder Regionen. Doch Gott hat die Menschheit immer geschützt, und selbst wenn eine Gefahr auf weltweiter Ebene erscheint, dann ist Gott wiederum da, um sie zu retten. Gandhi sagte, dass Europa voll ist sowohl von Verrücktheit wie auch zur gleichen Zeit Genialität. Ihre Verrückten sind Genies und ihre Genies Verrückte.

Die Logik der Religion lehrt uns, dass wir uns nicht über die Zukunft der Menschheit sorgen sollten. Gott hat uns das Versprechen einer Zeit gegeben, da Weisheit regieren wird und das Leben länger und Gesundheit und Sicherheit umfassender sein werden. Die Erde ist so voller verborgener Ressourcen, dass sie viele Male mehr als vier oder fünf Milliarden Menschen versorgen kann.

Die Welt, die uns versprochen ist, ist ein weiter und klarer Raum jenseits des dunklen Tunnels, der unsere gegenwärtige Welt darstellt. Es gibt keine Wahrscheinlichkeit, dass Korruption und Sünde die gesamte Welt beherrschen. Die Hilfe des Unsichtbaren für einen Menschen ist auf einer persönlichen Ebene und für Gemeinschaften auf einer sozialen Ebene und für die Welt auf einer universalen Ebene. Eine einzige Weltregierung wird umfassende Gerechtigkeit, Sicherheit, Wohlfahrt, Fortschritt und Güte etablieren.

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In der Reihe Islamisches Echo in Europa sind bisher erschienen:

1. Folge: Grundsätze des Islam, S. M. H. Beheschti

2. Folge: Das Gebet, M. M. Schabastari

3. Folge: Betrachtungen eines deutschen Muslim über den Islam,

A. Röseler

4. Folge: Stellung der Frau im Islam, M. Motahari

5. Folge: Geschichten der Propheten aus dem Qur'an

6. Folge: Gutes gebieten und Schlechtes verwehren, M. Moghaddam

7. Folge: Jihad - nicht heiliger Krieg, M. Moghaddam

8. Folge: Tauhid-Weltanschauung, Offenbarung, Prophetentum und Jen

seits, M. Motahari

9. Folge: Bittgebete

10. Folge: 150 Aussprüche des Propheten, s.a.s. (arabisch-deutsch)

11. Folge: Die islamische Weltanschauung,

S. M. H. Beheschti und M. M. Schabastari

12. Folge: Sammlung der Glückseligkeiten, M. M. Al-Naraqi

13. Folge: Die Schia im Islam, 3Allama S. M. H. Xabaxaba'i

14. Folge: Die Geschichte des Qur'an, A. 3A. al-ZanJani

15. Folge: Die Rechte der Minderheiten im Islam, 3A. 3A. 3A. ZanJani

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Spirituelle-4.jpg

ISBN 3-925165-12-6

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