Sammlung der Glückseligkeiten (Gami'al-Sa'ädät)
Muhammad M. Al-Naraqi

Inhalt


1. Kapitel

Ursprung und Bedeutung der Ethik                                         9

Läuterung und Ausschmückung der Seele                               12

Fähigkeiten, Wirkungen und Eigenschaften der Seele             13

Die Seele und ihre Kräfte                                                      14

Freude und Schmerz                                                              15

Güte und Glück                                                                     17

2. Kapitel

Moralische Tugenden und Laster                                           18

Mäßigung und Abweichungen                                                19

Typen des Lasters                                                                  19

Bedeutung der Gerechtigkeit                                                 24

Arten von Gerechtigkeit                                                         25

Selbstentwicklung                                                                  26

3. Kapitel

Krankheiten der Seele und ihre Behandlung                          27

Krankheiten der Verstandeskraft und ihre Behandlung          27

Andere Laster der Verstandeskraft                                        30

Krankheiten der Zorneskraft und ihre Behandlung                 35

Andere Laster der Zorneskraft                                               36

Laster der Leidenschaft                                                         47

4. Kapitel

Krankheiten aus einer Kombination der Kräfte des Verstandes, des
Zorns und der Leidenschaft
 54


 

Islamisches Echo in Europa • 12. Folge

Islamisches Zentrum Hamburg e. V.

Herausgeber und Vertrieb:

Islamisches Zentrum Hamburg e.V.

Schöne Aussicht 36 • D-22085 Hamburg

Februar 1995 - Rama±Án 1415

© Alle Rechte vorbehalten

ISBN-Nr. 3-925165-07-X

Vorwort des Herausgebers

Die Ethik- und Morallehre (al-avlaq) gehört zu den wichtigsten islamischen Wissenschaften und bildet zusammen mit den Glaubensprinzipien und den religiösen Gesetzen die Grundlage für die Weiterentwicklung und Vervollkommnung des Gläubigen. Der Heilige Qur'an charakterisiert die Ethik nicht nur als göttliche Eigenschaft, sondern auch als höchstes Weisheitsideal, das auf der theoretischen Ebene das Erkennen der Wirklichkeiten als Zeichen eines höheren Seins und auf der praktischen Ebene das Wissen von den Grundlagen der menschlichen Handlungen umfaßt; dieser praktischen Weisheit sind Ethik und Moral nicht nur Maßstab für gut und schlecht, sondern im Kampf des Menschen mit seinem eigenen Ego, seinen Trieben und Zorneskräften zugleich auch Wegweiser in Richtung Vervollkommnung. Wer auf der Grundlage der Ethik zwischen Wahrheit und Falschheit, Gut und Böse und Recht und Unrecht unterscheiden kann, der wird seine Kräfte so beherrschen, daß sie ihn zu positiven Werten wie Mut, Selbstlosigkeit, Tugendhaftigkeit, Bescheidenheit, Treue, Entschlossenheit und letztendlich Gewißheit führen können.

Immer wieder haben sich Gelehrte mit diesem Thema ausgiebig beschäftigt und bedeutende Werke dazu verfaßt. jami7 al-sa7adat, Sammlung der Glückseligkeiten, ist ein solches Werk von Muhammad Mahdi ibn Abi Darr al-Naraqi, einem islamischen Gelehrten, Mystiker und Moralphilosophen des ausgehenden 12./18. und frühen 13./19. Jahrhunderts. Das in arabischer Sprache verfaßte Buch umfaßt im Original drei Bände, deren wichtigsten Inhalte vom derzeitigen Leiter des Islamischen Zentrums Hamburg, Hojjatoles-lam M. B. Ansari, zu einigen kurzen Artikeln zusammengefaßt wurden. Wir hoffen, daß diese Schrift den Nichtmuslimen einen Einblick bietet in das islamische Moral- und Ethikverständnis und den Muslimen auf dem Wege der Vervollkommnung und Annäherung an Gott hilfreich sein wird.

Islamisches Zentrum Hamburg e.V. Ramawan 1415n.H./Februar 1995

Ursprung und Bedeutung der Ethik

Der Mensch hat eine Seele und einen materiellen Körper, die jeweils ihren eigenen Annehmlichkeiten und Krankheiten unterworfen sind. Was dem Körper schadet, ist Krankheit, und was ihm Annehmlichkeiten bereitet, liegt in seinem Wohlbefinden, in seiner Gesundheit und allem, was mit seiner Natur harmonisch übereinstimmt. Die Wissenschaft, die sich mit der Gesundheit und den Krankheiten des Körpers befaßt, ist die Medizin. Die Krankheiten der Seele sind schlechte Angewohnheiten und die Abhängigkeit von Begierden, die den Menschen auf die Ebene wilder Tiere erniedrigen. Die Annehmlichkeiten der Seele sind moralische und ethische Tugenden, die den Menschen erhöhen und ihn der Vervollkommnung und Weisheit näherbringen, womit sie ihn Gott annähern. Die Wissenschaft, die sich mit solchen Angelegenheiten befaßt, ist die Ethik (7ilm al-avlaq). Bevor wir eine Erörterung der Hauptfragen unseres Themas in Angriff nehmen, müssen wir beweisen, daß die Seele des Menschen unkörperlich ist, daß sie eine vom Körper unabhängige Existenz besitzt, und daß sie immateriell ist. Um dies zu beweisen, wurde eine Reihe von Argumenten angeführt, von denen wir die folgenden erwähnen können:

1. Zu den Wesensmerkmalen von Körpern gehört, daß sie immer, wenn sie in eine neue Form oder Gestalt gebracht werden, ihre frühere Form oder Gestalt verlieren oder aufgeben. In der menschlichen Seele hingegen entstehen beständig neue Formen, seien sie sinnlicher oder intellektueller Natur, ohne die zuvor existierenden Formen auszulöschen. In der Tat wird die Seele um so stärker je mehr Eindrücke und intellektuelle Formen in den Geist gelangen.

2.  Wenn die drei Elemente Farbe, Geruch und Geschmack in einem Objekt auftreten, dann wird es verändert. Die menschliche Seele hingegen nimmt alle diese Zustände wahr, ohne materiell davon in Mitleidenschaft gezogen zu werden.

3.  Die Annehmlichkeiten, die der Mensch durch intellektuelle Erkenntnis erfährt, können nur der Seele angehören, da der Körper des Menschen dabei keine Rolle spielt.

4.  Abstrakte Formen und Vorstellungen, die vom Geist wahrgenommen werden, sind zweifellos immateriell und unteilbar. Dementsprechend muß ihr Träger, nämlich die Seele, auch unteilbar und somit immateriell sein.

5. Die physischen Fähigkeiten des Menschen erhalten ihre Anregung über die Sinne, während die menschliche Seele gewisse Dinge ohne Zuhilfenahme der Sinne wahrnimmt. Zu dem, was die menschliche Seele begreift ohne auf die Sinne zu vertrauen, gehören das Gesetz des Widerspruchs, die Idee, daß das Ganze immer größer ist als eines seiner Teile, und ähnliche allgemeingültige

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Prinzipien. Die Negierung der Irrtümer der Sinne wie etwa optischer Illusionen seitens der Seele geschieht vermittels dieser abstrakten Vorstellungen, selbst wenn das für die Korrektur notwendige Rohmaterial von den Sinnen zur Verfügung gestellt wird.

Nachdem also die unabhängige Existenz der Seele erwiesen ist, wollen wir untersuchen, was für ihr Wohlergehen und ihre Freude verantwortlich ist, und was sie krank und unglücklich macht. Die Gesundheit und Vollkommenheit der Seele liegt darin, daß sie die wahre Natur der Dinge begreift, und dieses Verstehen kann sie aus dem engen Gefängnis der Begierden und Triebe und allen anderen Fesseln befreien, die ihre Entfaltung und Fortentwicklung zu jenem letztendlichen Stadium menschlicher Vollkommenheit behindern, die in der Nähe des Menschen zu Gott liegt. Dies ist die Zielsetzung der "spekulativen Weisheit" (al-hikmat al-nawariyyah). Gleichzeitig muß sich die menschliche Seele von allen schlechten Angewohnheiten und Charakterzügen reinigen, die ihr vielleicht anhaften, und sie durch ethische und tugendhafte Denk- und Verhaltensweisen ersetzen. Dies ist die Zielsetzung der "praktischen Weisheit" (al-hikmat al-7amaliyyah). Die spekulative und die praktische Weisheit sind wie Materie und Form aufeinander bezogen: sie können nicht ohne einander existieren.

Grundsätzlich bezieht sich der Begriff "Philosophie" auf die "spekulative Weisheit", und der Begriff "Ethik" bezieht sich auf die "praktische Weisheit". Ein Mensch, der sowohl die spekulative als auch die praktische Weisheit gemeistert hat, ist ein mikrokosmischer Spiegel des größeren Universums, des Makrokosmos.

Das Wort avlaq ist der Plural des Wortes "vulq", das "Veranlagung" bedeutet. Die "Veranlagung" ist jene Fähigkeit (malakah) der Seele, die der Ursprung all jener Aktivitäten ist, die der Mensch spontan durchführt, ohne darüber nachzudenken. Malakah ist eine Eigenschaft der Seele, die durch Übung und ständige Praxis entsteht und nicht leicht zu zerstören ist. Eine bestimmte Veranlagung kann aus einem der folgenden Gründe in einem Menschen auftreten:

1.  Natürliche und physische Beschaffenheit: Es wird beobachtet, daß einige Menschen geduldig sind, während andere empfindlich und nervös sind. Einige sind leicht beunruhigt und traurig, während andere größere Widerstandsfähigkeit und Beweglichkeit zeigen.

2.  Gewohnheit: Sie entsteht aufgrund beständiger Wiederholung bestimmter Handlungen und führt zur Herausbildung einer bestimmten Disposition.

3.  Praxis und bewußtes Bemühen: wenn sie lange genug fortgesetzt wird, führt sie schließlich zur Ausbildung einer Disposition.

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Selbst wenn die physische Beschaffenheit eines Individuums bestimmte Veranlagungen in ihm bewirkt, stimmt es keinesfalls, daß der Mensch in dieser Angelegenheit keine Wahl hat und absolut gezwungen ist, dem Diktat seiner physischen Beschaffenheit zu folgen. Im Gegenteil, gerade weil der Mensch imstande ist zu wählen, kann er durch Praxis und Bemühung das Diktat seiner physischen Natur überwinden und die Veranlagung seiner Wahl erwerben. Wir müssen natürlich zugeben, daß jene Veranlagungen, die durch die geistigen Fähigkeiten wie Intelligenz, Gedächtnis, geistige Regsamkeit und dergleichen vorgegeben sind, nicht veränderbar sind. Alle anderen Veranlagungen hingegen können dem menschlichen Willen entsprechend verändert werden. Der Mensch kann seine Begierde, seinen Zorn und andere Emotionen und Wünsche kontrollieren und kanalisieren, um sich selbst zu entfalten und sich auf dem Weg der Vervollkommnung und Weisheit voranzubringen. Wenn wir von der Fähigkeit des Menschen sprechen, Veränderungen in seinem Wesen zu bewirken, meinen wir nicht, daß der Mensch seinen Fort-pflanzungs- oder Selbsterhaltungstrieb zerstören sollte. Der Mensch könnte ohne diese Instinkte nicht existieren. Wir meinen vielmehr, daß man vermeiden sollte, in bezug darauf extreme Haltungen einzunehmen, und lieber einen Gleichgewichtszustand und ein Mittelmaß einhalten sollte, damit sie ihre Funktion ordentlich erfüllen. So wie die Saat einer Dattel durch angemessene Fürsorge zu einem fruchtbaren Baum heranwächst oder ein wildes Pferd gezähmt wird, so daß es seinem Herrn dient, oder ein Hund zu einem lebenslangen Freund und Helfer des Menschen abgerichtet wird, so kann auch ein Mensch durch Selbstdisziplin und intelligente Beharrlichkeit Vollkommenheit und Weisheit erlangen.

Menschliche Vollkommenheit hat viele Ebenen. Je größer die Selbstdisziplin und die Bemühung seitens des Individuums, um so höher ist die Ebene der Vollkommenheit, die es erlangt. Mit anderen Worten, es steht zwischen zwei Extrempunkten, von denen der tiefste noch unter der Ebene der Tiere liegt und der höchste selbst die hohe Stellung der Engel übersteigt. Um die Bewegung des Menschen zwischen diesen beiden Extrempunkten geht es in 7ilm al-avlaq oder der Wissenschaft der Ethik. Die Zielsetzung der Ethik besteht darin, den Menschen vom tiefsten animalischen Zustand zu jener hervorragenden Stellung zu erheben, die über die Stellung der Engel hinausragt. Die Bedeutung der Ethik ist somit offenkundig. Gerade wegen der oben erwähnten Gründe wird die Ethik als die erhabenste und wertvollste Wissenschaft angesehen, denn der Wert einer jeden Wissenschaft ist direkt mit dem Wert der Sache verknüpft, mit der sie sich befaßt, und die Ethik befaßt sich mit dem Menschen und den Mitteln, durch die dieser Vollkommenheit erlangen kann. Darüber hinaus wissen wir, daß der Mensch das edelste Geschöpf

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ist, dessen letztendliches Existenzziel darin besteht, Vollkommenheit zu erlangen; somit folgt daraus, daß die Ethik die edelste Wissenschaft ist. In der Tat haben in der Vergangenheit die Philosophen kein anderes Gebiet der Gelehrsamkeit als wirklich unabhängige Wissenschaft betrachtet. Sie waren der Ansicht, daß ohne Ethik und spirituelle Läuterung die Beherrschung jeder anderen Wissenschaft nicht nur völlig wertlos ist, sondern in der Tat die Einsicht behindert und letztendlich diejenigen zerstört, die sie betreiben. Deswegen wurde auch gesagt: "Das Wissen (oder: die Wissenschaft) ist der dickste Schleier", der den Menschen daran hindert, die wahre Natur der Dinge zu sehen.

Läuterung und Ausschmückung der Seele

Moralische Tugenden im Menschen schenken ihm ewiges Glück, während moralische Entartung ihn zu dauerhaftem Elend führt. Es ist deswegen für den Menschen notwendig, sich von allen schlechten Charakterzügen zu reinigen und seine Seele mit ethischen und moralischen Tugenden aller Art zu schmücken. Darüber hinaus wäre es ohne eine solche Reinigung von schlechten Gewohnheiten unmöglich, moralische Tugenden in sich zu fördern und zu entwickeln. Die menschliche Seele kann diesbezüglich mit einem Spiegel verglichen werden. Wenn wir sehen wollen, daß sich etwas Schönes darin widerspiegelt, müssen wir den Spiegel zuerst reinigen, so daß Schmutz und Staub nicht das Spiegelbild entstellen. Jeder Versuch, Gottes Geboten zu gehorchen, ist nur dann fruchtbar und erfolgreich, wenn man sich von schlechten Gewohnheiten und Neigungen gereinigt hat, sonst wäre es so, wie wenn jemand einen schmutzigen und ungewaschenen Körper mit Juwelen schmückt. Wenn die Selbstreinigung abgeschlossen ist und man alle schlechten Gewohnheiten der Gedanken, Worte und Handlungen abgelegt hat, ist die Seele bereit, Gottes unbegrenzte Gnade zu empfangen. Diese Aufnahme der göttlichen Gnade ist der letztendliche Grund, aus dem der Mensch erschaffen wurde.

In Wirklichkeit sind Gottes Gnade und die göttlichen Geheimnisse dem Menschen immer zugänglich. Es ist der Mensch, der seine Seele läutern und in sich die notwendige Empfänglichkeit entwickeln muß, um von der unendlichen Gnade seines Schöpfers profitieren zu können. Es gibt eine Überlieferung vom heiligen Propheten (s.a.s.), die besagt: "Die Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund befindet." Wie wäre es dann möglich, daß die Strahlen der Gnade Gottes und der göttlichen Erleuchtung in ein Herz gelangen, das mit unmoralischen, eigennützigen und bestialischen Begierden

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gefüllt ist? Die Überlieferung des Propheten "Meine Religion ist auf Reinheit gebaut", bezieht sich nicht allein auf die äußerliche Reinheit, sondern noch viel mehr auf die innere Reinheit der Seele.

Um die letztendliche und endgültige Vollkommenheit zu erlangen, ist es notwendig, den Pfad des Kampfes gegen eigennützige Begierden und unmoralische Neigungen, die vielleicht in der Seele existieren, bis zum Ende zu beschreiten und damit die Seele darauf vorzubereiten, Gottes Gnade zu empfangen. Wenn der Mensch seinen Fuß auf den Pfad der Selbstläuterung setzt, kommt Gott ihm zu Hilfe und führt ihn den Pfad entlang: "Diejenigen, die sich für Unsere Sache einsetzen, die werden Wir sicherlich auf Unseren Wegen führen. " (Sure 29, Vers 69)

Fähigkeiten, Wirkungen und Eigenschaften der Seele

Zum Zeitpunkt ihrer Schöpfung ist die Seele wie eine saubere Tafel, ohne alle Charakterzüge, weder gute noch böse. Während man im Leben voranschreitet, entwickelt man Fähigkeiten, die direkt auf die Denk-, Lebens- und Handlungsweise bezogen sind. Rede und Handlungen eines Menschen bewirken, wenn sie über einen langen Zeitraum hinweg wiederholt werden, einen nachhaltigen Eindruck auf die Seele, der als "Fähigkeit" bekannt ist. Diese Fähigkeit durchdringt die Seele und wird zu Grund und Ursache der Handlungen des Menschen. Mit anderen Worten, die menschliche Seele gewöhnt sich an diese Fähigkeiten, stellt eine Einheit mit ihnen her und bestimmt entsprechend ihres Diktats die Richtung des Menschenwesens. Wenn diese Fähigkeiten (malakat) edel sind, dann manifestieren sie sich im Menschen in moralischer und weiser Rede und Verhaltensweise. Wenn sie aber im Gegensatz dazu böse und niedrig sind, dann manifestieren sie sich durch unmoralisches und entartetes Verhalten.

Gerade diese Fähigkeiten spielen die entscheidende Rolle bei der Bestimmung des Schicksals eines Individuums in der ewigen Welt des zukünftigen Lebens. Die Seele wird dort von denselben Fähigkeiten begleitet, mit denen sie in dieser Welt verbunden war. Wenn diese Fähigkeiten tugendhaft sind, dann erfährt die Seele ewige Glückseligkeit, und wenn sie böse waren, dann sieht sie sich ewiger Strafe gegenüber.

Diese Angelegenheit der malakat gibt denjenigen eine Antwort, die einwenden: Wie kann der gnädige und barmherzige Gott ein Individuum für eine in einer kurzen Zeitspanne begangene Sünde zu ewiger Strafe verdammen? Wir müssen im Gedächtnis behalten, daß eine Sünde, wenn sie wiederholt begangen wird, zur Entstehung einer Fähigkeit im Menschen führt, daß diese böse

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Fähigkeit dann zum Bestandteil der Seele wird und damit die Strafe, die sie mit sich bringt, auch die Seele betrifft. Der Qur'an sagt: "Und jedem Menschen haben wir den Vogel (seines Schicksals) an den Nacken geheftet, und am Tag der Auferstehung werden Wir ihm ein Buch vorlegen, das er entsiegelt finden wird. Lies dein Buch! Heute genügt deine eigene Seele als Rechnerin wider dich." (Sure 17, Verse 13 und 14) Oder auch: "Und das Buch wird ihnen vorgelegt, und du wirst die Schuldigen in Ängsten sehen ob dessen, was darin ist; und sie werden sprechen: O wehe uns! Was für ein Buch ist das! Es läßt nichts aus, klein oder groß, sondern hält alles aufgezeichnet. Und sie werden alles gegenwärtig finden, was sie getan. Und dein Herr tut keinem Unrecht." (Sure 18, Vers 49) Oder auch: "An dem Tag wird jede Seele vor sich finden, was sie an Gutem getan hat und was sie an Bösem getan hat: wünschen wird sie, daß ein großer Abstand wäre zwischen ihr und jenem (Bösen)." (Sure 3, Vers 29)

Die Seele und ihre Kräfte

Die Seele (nafs) ist jene himmlische Essenz, die sich des Körpers bedient und seine verschiedenen Organe benutzt, um ihre Zielsetzungen zu erreichen. Die Seele hat auch andere Bezeichnungen wie Geist (ruh), Vernunft (7aql) und Herz (qalb), obgleich diese Begriffe auch noch anders benutzt werden.

Die wichtigsten Fähigkeiten der Seele sind folgende:

1. Die Kraft der Intelligenz (al-quwwah al-7aqliyah) - engelhaft.

2. Die Kraft des Zorns (al-quwwah al-gawabiyah) - raubtierhaft.

3. Die Kraft der Begierde (al-quwwah al-pahwiyah) - animalisch.

4. Die Kraft der Imagination (al-quwwah al-wahmiyah) - dämonisch.

Die Funktion und der Wert einer jeder dieser Kräfte oder Fähigkeiten der Seele ist allgemein bekannt. Hätte der Mensch die Kraft der Vernunft nicht, dann wäre es ihm unmöglich, zwischen gut und böse, richtig und falsch, wahr und unwahr zu unterscheiden. Hätte er nicht die Fähigkeit, zornig zu werden, dann könnte er sich nicht gegen Angriffe und Aggressionen zur Wehr setzen. Würde nicht die Kraft geschlechtlicher Anziehung und Begierde im Menschen existieren, wäre der Fortbestand der Menschheit in Gefahr. Wenn schließlich dem Menschen die Vorstellungskraft fehlte, dann könnte er sich weder Allgemeines noch Spezielles vorstellen und wäre nicht in der Lage, darauf begründete Schlußfolgerungen zu ziehen. Mit dieser Erklärung werden die Eigenschaften, die für jede der vier menschlichen Fähigkeiten erwähnt wurden, verständlich gemacht. Die Vernunft ist der führende Engel des

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Menschen. Die Kraft des Zorns und der Härte bringt Wildheit und Gewalt im Menschen hervor. Seine Kraft der Begierde und Leidenschaft treibt ihn zu Unmoral und Ausschweifung. Und die Vorstellungskraft im Menschen stellt das Grundmaterial zur Bildung dämonischer Pläne, Verschwörungen und Machenschaften zur Verfügung. Wenn nun aber die Fähigkeit der Vernunft als Kontrollinstanz über die anderen Fähigkeiten gesetzt wird, dann hält sie diese an ihrem rechtmäßigen Platz und schränkt ihre Exzesse ein; sie werden dann für das Wohlergehen des Menschen wirksam und erfüllen eine nützliche Funktion; andernfalls kommt von ihnen nichts als Übel und Boshaftes.

Die Beziehung dieser vier Fähigkeiten der menschlichen Seele untereinander wird wie folgt allegorisch geschildert: Wir stellen uns einmal einen Reisenden zu Pferde vor, der von einem Hund begleitet wird und von einem Mann, der ein Kundschafter für die Räuber ist. Der Reiter zu Pferde entspricht der Vernunft. Das Reittier entspricht der Begierde und Leidenschaft. Der Hund repräsentiert die Kraft des Zorns und der Wildheit. Der Spion repräsentiert die Vorstellungskraft. Wenn der zuvor erwähnte Reiter erfolgreich sein Reittier, den Hund und den Spion unter Kontrolle hält, gelangt er sicher an sein Ziel, andernfalls wird er vernichtet. Somit ist die menschliche Seele eine Bühne oder ein Schlachtfeld, wo ein beständiger Kampf zwischen diesen vier Kräften stattfindet. Was schließlich das dominante Charaktermerkmal und die Natur der Seele eines Individuums ist, hängt einzig vom Ausgang dieses Kampfes ab. Mit anderen Worten, diejenige der vier Kräfte, die sich als siegreich erweist, bestimmt den Charakter und die Neigungen der Seele. Deswegen sind einige Seelen engelhaft, einige animalisch, einige raubtierhaft und wieder andere dämonisch. In einer Überlieferung sagte Imam 7Ali (a.s.): "Gott hat die Engel mit Vernunft begabt ohne Begierde und Zorn und die Tiere mit Zorn und Begierde ohne Vernunft. Er hat den Menschen erhöht, indem Er ihm alle diese Eigenschaften gegeben hat. Wenn also die Vernunft des Menschen seine Begierde und seinen Zorn beherrscht, dann steigt er zu einer höheren Stellung auf als die Engel, denn diese Stellung erreicht der Mensch trotz der Hindernisse, die den Engeln nicht im Weg stehen."

Freude und Schmerz

Freude ist ein Zustand, den die Seele erfährt, wenn sie innerhalb ihres eigenen Wesens etwas Harmonisches wahrnimmt. Schmerz und Leiden wird dadurch verursacht, daß die Seele mit Dingen in Berührung kommt, die sich in Disharmonie mit ihrem Wesen befinden.

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Da es vier Kräfte der Seele gibt, folgt daraus, daß auch die Freuden und Schmerzen der Seele in vier Kategorien unterteilt werden müssen, die jeweils den vier Kräften entsprechen.

Die Freude der Vernunft liegt darin, Wissen vom wahren Wesen der Dinge zu erlangen, und ihr Schmerz liegt in Unwissenheit und im Nichtvorhandensein solchen Wissens.

Die Freude der Kraft des Zorns und der Härte liegt in dem Gefühl, siegreich zu sein, und in der Zufriedenheit, einen Feind überwunden und Vergeltung geübt zu haben. Ihr Schmerz liegt in dem Gefühl, überwunden und unterlegen zu sein.

Das Vergnügen der Kraft der Begierde und Leidenschaft liegt im Genuß von Speisen, Getränken etc., wohingegen ihr Schmerz im Verzicht auf solchen Erfahrungen liegt.

Die Freude der Vorstellungskraft liegt in der Vorstellung von Einzelheiten, die zum Erscheinen fleischlicher Begierden und dämonischer Neigungen führen, während ihr Schmerz in der Unvollständigkeit und Unzulänglichkeit dieser Vorstellungen liegt.

Die stärkste und reinste Freude ist die Freude, die von der Vernunftkraft erfahren wird. Dies ist eine Form der Freude, die dem Menschen sowohl inhärent als auch natürlich ist. Sie ist eine beständige Form der Freude, die nicht den wechselnden Erfahrungen seines täglichen Lebens unterworfen ist. Sie ist anders als die anderen Freuden, die, da sie dem Körper angehören und tierisch sind, ihrer Natur nach vergänglich sind und keinen dauerhaften Wert haben. Diese tierischen Formen sind in der Tat so niedrig und trivial, daß der Mensch sich ihrer schämt und sie zu verbergen sucht. Wenn man von einem Menschen sagen würde, er hätte große Freude an Essen, Trinken und anderen Genüssen, dann wäre er darüber beschämt und bestürzt. Wären hingegen solche Aktivitäten und Freuden schicklich, dann würde er sich deswegen nicht nur nicht schämen, sondern wäre in der Tat froh und stolz, wenn sie öffentlich bekannt würden.

Wir können daraus also schließen, daß die Art der Freude, die für den Menschen schicklich ist und die man als wirklich befriedigend bezeichnen kann, nicht nur dem Anschein nach die Freude ist, die von der Vernunft der Seele erfahren wird. Diese Art Freude hat viele Abstufungen, deren höchste in Gottes Nähe erfahren wird. Diese äußerst feine Freude wird durch die Liebe und Erkenntnis Gottes und durch ständige Bemühungen erworben, Ihm immer näher zu kommen. Wenn das gesamte Bemühen eines Menschen darauf gerichtet ist, diese wirkliche und bleibende Freude zu erlangen, werden dadurch die sinnlichen Freuden überschattet; sie werden dann ihren gebührenden Platz im Leben des Menschen einnehmen und in Maßen angestrebt werden.

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Güte und Glück

Das letztendliche Ziel der Läuterung der Seele und des Erwerbs eines moralischen und ethischen Charakters besteht darin, Glück und Zufriedenheit zu erlangen. Die vollendetste Glückseligkeit und Zufriedenheit für den Menschen besteht darin, die Verkörperung und Manifestation göttlicher Attribute und Eigenschaften zu sein. Die Seele eines wirklich glückseligen Menschen entfaltet sich durch die Erkenntnis und Liebe Gottes; sie wird durch den Glanz der Emanation von der Gottheit erleuchtet. Wenn das geschieht, geht nichts als Schönheit von ihm aus, denn Schönheit kann nur von Schönem ausgehen. Wir sollten im Gedächtnis behalten, daß wahre Glückseligkeit nicht erlangt oder behalten werden kann, solange nicht alle Fähigkeiten und Kräfte der Seele geläutert und gebessert sind. Wenn nur einige Fähigkeiten der Seele oder sie alle für eine kurze Zeitspanne gebessert werden, dann kann man das Glück nicht erlangen. Dies verhält sich ähnlich wie bei der physischen Gesundheit. Man kann einen Körper nur dann als gesund bezeichnen, wenn alle seine Glieder und Organe gesund sind. Darum muß das Individuum, das nach dem letztendlichen und vollkommenen Glück strebt, sich selbst aus den Klauen der dämonischen und animalischen Kräfte und Neigungen befreien und auf der Stufenleiter zu höheren Bereichen steigen.

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Moralische Tugenden und Laster

Wir hatten zuvor festgestellt, daß die menschliche Seele vier verschiedene Kräfte oder Fähigkeiten besitzt: Intelligenz, Zorn, Begierde und die Kraft der Vorstellung (al-quwwah al-wahmiyah oder al-7amilah)1. Ihre Läuterung und richtige Schulung führen zur Entstehung einer weiteren Fähigkeit im Menschen.

Die Läuterung und Bildung der Vernunftkraft führt zur Entwicklung von Wissen und folglich von Weisheit im Menschen. Die Läuterung der Kraft des Zorns führt zur Entstehung der Fähigkeit des Mutes und folglich der Langmut (hilm). Die Läuterung der Kraft der Leidenschaft und Begierde führt zur Entwicklung der Fähigkeit der Keuschheit und folglich der Großzügigkeit. Und die Läuterung der Vorstellungskraft läßt die Fähigkeit zur Gerechtigkeit in einem Menschen entstehen.

Die moralischen Tugenden sind somit Weisheit, Mut, Keuschheit und Gerechtigkeit. Die diesen entgegengesetzten Eigenschaften sind Unwissenheit,2 Gier, Ungerechtigkeit und Tyrannei.

Weisheit ist der Besitz eines Verständnisses von den Objekten dieser Welt, das mit der Wirklichkeit der Dinge übereinstimmt. Das Vorhandensein von Mut und Keuschheit bedeutet, daß die Kräfte des Zorns und der Begierde völlig dem Intellekt zur Verfügung stehen und völlig frei von den Fesseln der Gier und des Egoismus sind. Was die Gerechtigkeit betrifft, so bezieht sich dies auf den Zustand, in dem die Vorstellungskraft völlig von der Kraft des Intellekts kontrolliert wird. Dies impliziert die Regulierung aller Seelenkräfte durch die Kraft des Intellekts. Mit anderen Worten, das Vorhandensein der Gerechtigkeit in der Seele setzt das Vorhandensein der anderen drei Fähigkeiten, nämlich der Weisheit, des Mutes und der Keuschheit voraus.

Hier muß auf einen wichtigen Sachverhalt hingewiesen werden. Nach Ansicht der islamischen Ethiker ist eine Person, die diese vier Fähigkeiten in sich entwickelt hat, nur dann zu loben, wenn der Besitz dieser vier Fähigkeiten

1  Die Vorstellungskraft wird auch als "praktischer Intellekt" bezeichnet im Gegensatz zum "spekulativen Intellekt", der die Begriffe von Tugend und Sünde umfaßt und Ratschlag und Führung gibt. Ersterer läßt die Anweisungen des "spekulativen Intellekts" wirksam werden und befolgt diese, die immer auf die Regulierung der Kräfte der Begierde und des Zorns im Menschen ausgerichtet sind.

2 Unwissenheit oder Jahl wird hier in einem weiteren Sinne gebraucht; es steht hier im Gegensatz zu 7aql (Verstand) oder hikmah (Weisheit), nicht im Gegensatz zu 7ilm (Wissen).

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auch anderen Menschen nützt. Dies lehrt uns die Vernunft. Das heißt, sie lehrt uns, daß rein innerliche und private Tugenden nicht viel Wert haben und ihr Besitzer dafür kein Lob verdient.

Mäßigung und Abweichungen

Jede einzelne der vier ethischen Tugenden ist in einem bestimmten Umfang und innerhalb bestimmter Grenzen zu praktizieren, deren Überschreitung die Tugend in ein Laster verwandelt. Wenn wir uns jede Tugend als Mittelpunkt eines Kreises vorstellen, dann würde jede Bewegung von diesem Mittelpunkt weg als Laster betrachtet werden, und je weiter man sich von diesem Punkt wegbewegt, um so größer ist das Laster. Zu jeder Tugend gibt es somit unzählige Laster, denn in einem Kreis gibt es nur einen Mittelpunkt, während die Punkte um den Mittelpunkt herum unzählbar sind. Bezüglich der Abweichungen macht es keinen Unterschied, in welche Richtung diese tendiert. Jede Abweichung vom Mittelpunkt, ganz gleich in welche Richtung, ist ein Laster. Der wirkliche Mittelpunkt, nämlich die absolute Mäßigung, ist somit schwierig zu finden. An diesem Mittelpunkt zu bleiben und dieses Gleichgewicht zu wahren ist noch schwieriger. Der Prophet (s.a.s.) sagte: "Die Sure Hud hat mich ergrauen lassen wegen des Verses 'Bleibe standhaft, wie dir befohlen wurde'." (Sure 11, Vers 112)

Im Gegensatz zum wirklichen Mittelpunkt gibt es den ungefähren Mittelpunkt, der eher zugänglich ist. Individuen, die ihre Seele läutern und entwik-keln, erreichen gewöhnlich diesen relativen Mittelpunkt und erlangen eine relative Mäßigung. Aus diesem Grund unterscheiden sich moralische Tugenden je nach den unterschiedlichen Individuen, Begleitumständen und Zeiten. Die relative Mäßigung erstreckt sich wie die Abweichung über ein weites Gebiet, in dessen Mitte der Punkt absoluten Gleichgewichts und absoluter Mäßigung liegt.

Typen des Lasters

Wir hatten bereits gesagt, daß Abweichungen von der Mäßigung und dem Goldenen Mittelweg Laster nach sich ziehen. Diese Abweichung zum jeweiligen Extrem nach beiden Seiten hin hat unendliche Abstufungen. Hier wollen wir nur die beiden Extreme zu der jeweiligen moralischen Tugend erwähnen:

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Mangel

<=■

Mittelmaß c

=> Exzeß

Dummheit

<=■

Weisheit :

=> Schläue

Feigheit

<=■

Mut :

=> Tollkühnheit

Lethargie

<=■

Keuschheit :

=> Habgier

Unterwürfigkeit

<=■

Gerechtigkeit :

=> Tyrannei

Es gibt somit acht Arten des Lasters, die wir jeweils kurz beschreiben wollen:

1. Dummheit ist ein Mangel an Weisheit, d.h. daß jemand die Kraft des Intellekts nicht benutzt, um das Wesen der Dinge zu verstehen.

2.  Schläue ist der übertriebene Gebrauch des Intellekts: d.h., jemand benutzt die Kraft des Intellekts in unangemessenen Angelegenheiten, oder er benutzt sie in übertriebenem Maße in angemessenen Angelegenheiten.

3.  Feigheit ist der Mangel an Mut, d.h. Angst und Unentschlossenheit in Fällen, wo kein Grund dafür vorliegt.

4.  Übermut ist ein Exzeß an Mut, d.h. rücksichtslose Handlungsweise in Fällen, wo dies nicht angebracht ist.

5.   Lethargie ist der Mangelzustand gegenüber dem Mäßigungspunkt der Keuschheit, d.h. das Versäumnis, Dinge zu nutzen, die der Körper braucht.

6.  Habgier ist das der Lethargie entgegengesetzte Extrem, d.h. Übertreibung in Essen, Trinken und anderen sinnlichen Genüssen.

7.  Unterwürfigkeit ist der Mangelzustand, der dem Mäßigungspunkt der Gerechtigkeit entspricht, d.h. Zustimmung zu Unterdrückung und Tyrannei.

8.  Tyrannei ist das der Unterwürfigkeit entgegengesetzte Extrem, d.h., daß man entweder sich selbst oder andere unterdrückt.

Jedes dieser acht Laster hat zahlreiche Zweige und Unterteilungen, die mit der Richtung und dem Grad der Abweichung von der Mäßigung, wie sie von den vier Tugenden repräsentiert werden, verbunden sind. Da Abweichungen in einer unendlichen Anzahl von Graden vorkommen können, ist es nicht möglich, sie alle aufzuzählen. Wir werden jedoch hier einige der bekanntesten erwähnen und später auf die Methoden eingehen, mit denen sie bekämpft werden können.

Die Kraft des Intellekts (al-quwwah al-7aqliyah) kann zweierlei Laster haben, nämlich Dummheit und Schläue, die wie folgt unterteilt werden:

- Einfache Unwissenheit: nicht wissen.

-  Zusammengesetzte Unwissenheit: unwissend sein und dabei nicht wissen, daß man unwissend ist.

- Perplexität und Zweifel im Gegensatz zu Gewißheit und Überzeugung.

- Fleischliche Versuchungen im Gegensatz zum Betrachten der Schönheit der göttlichen Schöpfung.

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- Täuschung und Betrügerei: um von Leidenschaft und Zorn diktierte Ziele zu erreichen.

- Götzendienst im Gegensatz zum Glauben an Gottes Einheit und Einzigkeit.

Die Kraft des Zorns (al-quwwah al-gawabiyah) hat zwei Laster, nämlich Feigheit und Übermut, mit folgenden Abstufungen:

-  Angst: ein psychischer Zustand, der durch die Erwartung eines schmerzhaften Ereignisses oder Verlustes günstiger Bedingungen verursacht wird.

-  Mangelnde Ausdauer und Selbstverachtung: Dies ist eine der Folgen einer Schwäche des Geistes und zeigt die Unfähigkeit an, Schwierigkeiten gegenüberzutreten. Die entgegengesetzte Eigenschaft ist Standhaftigkeit, d.h. die Fähigkeit, Schwierigkeiten und wichtige Umstände zu ertragen.

-  Furchtsamkeit: diese entsteht durch mangelndes Selbstvertrauen und einen schwachen Charakter und zeigt die Unfähigkeit, sich für edle und wertvolle Ziele einzusetzen. Die diesem Laster entgegengesetzte Tugend ist die Tugend der Tapferkeit, d.h. des Mutes und der Bereitschaft, große Mühe aufzuwenden um wahres Glück und Vollkommenheit zu erlangen.

- Mangelndes Selbstwertgefühl: auch dies entsteht durch Charakterschwäche und zeigt sich in der Unfähigkeit, für Angelegenheiten Sorge zu tragen, die solcher Fürsorge bedürfen.

- Voreiligkeit: dies ist eine weitere Manifestation eines schwachen Charakters und bedeutet, daß jemand Entscheidungen trifft und sich zu Handlungen entschließt, ohne gründlich darüber nachgedacht zu haben. Das entgegengesetzte Extrem ist Lethargie, also die Neigung zu Trägheit und fehlendem Eifer, Handlungen in Angriff zu nehmen.

-   Mißtrauen gegenüber Gott und den Gläubigen: dies ist eine weitere Manifestation eines schwachen und furchtsamen Charakters. Das Gegenstück hierzu ist Vertrauen zu Gott und den Gläubigen, das ein Zeichen von Mut und Selbstvertrauen ist.

- Zorn: Das Gegenteil hierzu ist Geduld und Langmut (hilm).

- Rachsucht im Gegensatz zur Bereitschaft zur Vergebung.

-  Gewalttätigkeit: Diese wird durch die Kraft des Zorns verursacht und wendet Gewalt an, um ein Ziel zu erreichen. Ihr Gegenteil ist Versöhnungsbereitschaft und Mitleid.

- Verstimmtheit im Gegensatz zu Gutmütigkeit.

- Neid und Groll.

-  Feindseligkeit im Gegensatz zu Freundlichkeit oder mit anderen Worten dem Interesse am Wohlergehen der anderen.

-  Überheblichkeit und Eitelkeit: das entgegengesetzte Extrem hierzu ist der Minderwertigkeitskomplex.

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- Arroganz: das Gegenteil hiervon ist Demut.

- Prahlerei: das bedeutet, daß man mit Stolz und Selbstzufriedenheit von sich selbst spricht. Dieser Zustand wird durch Arroganz verursacht.

- Rebellion: Ungehorsam gegenüber jemandem, der Gehorsam verdient. Auch dieser Zustand wird durch Arroganz verursacht, und das Gegenteil hiervon ist Gehorsam gegenüber jemandem, dem Gehorsam gebührt.

-   Fanatismus: ist gekennzeichnet durch eine intensive und unkritische Hingabe an eine Sache.

-  Ungerechtigkeit und Verheimlichen der Wahrheit: die Gegenteile hiervon sind Gerechtigkeit und Standhaftigkeit bei der Verteidigung der Wahrheit.

-  Brutalität: Gnadenlosigkeit und fehlendes Mitleid, wo diese Eigenschaften angebracht wären.

3. Die Laster der Kraft der Leidenschaft und Begierde sind Lethargie und Habgier und unterteilen sich wie folgt:

-  Begehren der Welt und des Reichtums: das Gegenteil hiervon ist zuhd (Enthaltsamkeit).

- Überfluß und Reichtum im Gegensatz zu Armut.

-  Gier (xama7) im Unterschied zu Gleichgültigkeit gegenüber dem Eigentum anderer.

-  Habgier: (hirs) das Gegenteil hiervon ist Zufriedenheit mit dem, was man hat.

-  Begehren von Dingen, die von der Religion verboten sind, und Beschäftigung mit unerlaubten Handlungen: das Gegenteil hiervon ist wara7 (Frömmigkeit, Vorsicht), Enthaltsamkeit von verbotenen Dingen und Handlungen.

- Treulosigkeit im Gegensatz zu Ehrlichkeit.

- Ausschweifungen aller Art.

- Verstrickung in Unwahrheit und Fürwahrhalten von Falschem.

-  Beschäftigung mit nichtigem und sinnlosem Gerede und gewohnheitsmäßiger leerer Prahlerei.

Somit haben wir die Aufzählung der Tugenden und Laster abgeschlossen, die einer jeden dieser drei Fähigkeiten zugeordnet sind. Wir wollen nun jene Tugenden und Laster betrachten, die gleichzeitig zwei oder drei der Seelenkräfte zugeordnet sind. Es sind folgende:

- Eifersucht: das ist der Wunsch, das Glück einer anderen Person möge sich verringern.

-  Beleidigung und Demütigung anderer: das Gegenteil hiervon ist, andere zu ehren und zu respektieren.

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- Anderen gegenüber nicht freundlich und hilfsbereit sein.

- Schmeichelei.

- Abbruch der Beziehungen zu Familienangehörigen und Verwandten.

-  Versäumnis der Pflicht gegenüber den Eltern und Herausforderung ihrer Ablehnung.

- Einmischung in die Angelegenheiten anderer, um ihre Fehler zu entdecken.

-  Bloßstellung der Geheimnisse anderer: das Gegenteil hiervon ist, die Geheimnisse anderer zu bewahren und verborgen zu halten.

-  Verursachen von Spannungen und Disharmonie zwischen Menschen: die Kehrseite hiervon ist Frieden und Harmonie unter ihnen zu stiften.

- Fluchen.

- Wortstreit und Feindseligkeit.

- Verspotten und Lächerlichmachen anderer.

- Verleumdung.

- Lügen.

- Geltungs- und Ruhmsucht.

-   Begierde nach Lob und Abscheu gegenüber Kritik: der Gegensatz hiervon ist Gleichgültigkeit beiden gegenüber.

- Vortäuschung: etwas tun, um die zustimmende Aufmerksamkeit anderer auf sich zu ziehen.

-  Heuchelei: das Gegenteil hiervon ist, in der äußeren Erscheinung derselbe zu sein wie im inneren Selbst.

- Selbstbetrug: das Gegenteil hiervon ist Einsicht, Wissen und Demut.

- Widerspenstigkeit: das Gegenteil hiervon ist Gehorsam.

-  Unverschämtheit und Schamlosigkeit: das Gegenteil hiervon ist Bescheidenheit und Anständigkeit.

- Komplizierte und hochgestochene Wünsche.

- Verharren in Sünde, was im Widerspruch zu Reue oder Umkehr steht.

-  Selbstvernachlässigung und Selbstentfremdung im Unterschied zu Selbstachtung und Bewußtsein vom eigenen Ziel.

-  Apathie und Indifferenz gegenüber dem eigenen Guten und der eigenen Glückseligkeit.

-  Unangebrachter Haß: das Gegenteil hiervon ist angebrachte Freundschaft und Liebe.

- Unzuverlässigkeit und Untreue im Gegensatz zu Treue.

- Isolation und Menschenscheu: das Gegenteil hiervon besteht darin, gesellig und freundlich zu sein.

-  Groll und Verdrießlichkeit im Widerspruch zu Ruhe und Selbstbeherrschung.

- Gram und Gewissensbisse: das Gegenteil ist Fröhlichkeit und Frohsinn.

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- Mangelndes Gottvertrauen.

- Undankbarkeit.

- Besorgnis, Angst und Ungeduld.

- Gottlosigkeit oder Mangel an Ehrfurcht, was im Ungehorsam und der Übertretung der göttlichen Gebote zum Ausdruck kommt und im Gegensatz steht zu Frömmigkeit und gehorsamer Erfüllung der von Gott auferlegten Pflichten sowie der Durchführung von Handlungen, die von Gott empfohlen wuden.

Bedeutung der Gerechtigkeit

Nachdem wir nun alle Tugenden und Laster aufgezählt haben, ist es notwendig, zu einem Verständnis der wirklichen Bedeutung der Gerechtigkeit zu gelangen, denn alle ethischen Tugenden entstammen dieser Eigenschaft, so wie alle Laster der Ungerechtigkeit als der ihr entgegengesetzten Eigenschaft entspricht. Plato sagt:

Wenn sich im Menschen die Fähigkeit der Gerechtigkeit entwickelt, werden alle anderen Fähigkeiten und Kräfte der Seele dadurch erleuchtet, und alle diese Fähigkeiten und Kräfte erhalten Licht voneinander. Dies ist der Zustand, in dem sich die menschliche Seele auf die bestmögliche und verdienstvollste Weise regt und handelt, sich der Quelle der Schöpfung annähert und mit ihr verbindet.

Die Eigenschaft der Gerechtigkeit bewahrt den Menschen vor der Gefahr der Abweichung nach den Extremen hin, sei es in persönlichen oder in gesellschaftlichen Angelegenheiten, und sie ermöglicht ihm ferner, dauerhafte Glückseligkeit zu erlangen. Es muß natürlich angemerkt werden, daß diese Eigenschaft nur dann erfolgreich geübt werden kann, wenn der einzelne weiß, was die Goldene Mitte ist und sie von Exzessen zu unterscheiden vermag, wenn er sich ihnen gegenübersieht. Außer durch die heiligen Lehren des Islam, die ausführliche Anweisungen in bezug auf alle Angelegenheiten enthalten, die für den Menschen nötig sind, um Glück und Freude in dieser Welt und in der nächsten zu erlangen, kann ein derartiges Unterscheidungsvermögen unmöglich erreicht werden.

Arten von Gerechtigkeit

Gerechtigkeit ist von dreierlei Art:

Gerechtigkeit zwischen Gott und dem Menschen, zwischen Menschen untereinander und zwischen Lebenden und Toten.

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1. Die Gerechtigkeit zwischen dem Menschenwesen und Gott; d.h. Strafe und Lohn, die Gott dem Menschen entsprechend seiner Taten und Handlungen zukommen läßt. Wenn sich dies anders verhielte, dann würde das Ungerechtigkeit und Rechtsbruch von Gottes Seite und eine ungerechte Behandlung Seiner Geschöpfe implizieren, Eigenschaften, die Gott nicht hat.

2.  Die Gerechtigkeit zwischen den Menschen: d.h., daß jeder die individuellen und gesellschaftlichen Rechte der anderen respektiert und den heiligen Gesetzen des Islam entsprechend handelt. Dies bezeichnet man als soziale Gerechtigkeit. In einer prophetischen Überlieferung werden die gesellschaftlichen Rechte folgendermaßen aufgezählt: "Jeder Gläubige hat dreißig Pflichten seinem Glaubensbruder gegenüber, die er nicht als erfüllt betrachten kann, solange er sie nicht entweder ausführt oder von seinem Glaubensbruder davon freigestellt wird. Diese Pflichten sind: seine Fehler zu vergeben; barmherzig und freundlich zu ihm zu sein, wenn er sich in einem fremden Land befindet; seine Geheimnisse zu wahren; ihm die Hand zu reichen, wenn er zu fallen droht; seine Entschuldigung anzunehmen; es zu unterbinden, wenn er verleumdet wird; ihm immer wieder gute Ratschläge zu geben; seine Freundschaft zu schätzen; sein Vertrauen zu erfüllen; ihn zu besuchen, wenn er krank ist; in seiner Todesstunde bei ihm zu sein; seine Einladung und seine Geschenke anzunehmen; seine Gefälligkeiten in gleichem Maße zu erwidern; ihm für seine Gefälligkeiten zu danken; für seine Hilfe dankbar zu sein; sein Eigentum und seine Ehre zu schützen; ihm bei der Erfüllung seiner Bedürfnisse zu helfen, sich um eine Lösung seiner Probleme zu bemühen; 'Gott erbarme Sich deiner' zu sagen, wenn er niest; ihn zu dem zu bringen, was er verloren hat; ihn beim Wort zu nehmen (und nicht seine Aussage zum Schlechten hin zu interpretieren); seine Schenkungen zu akzeptieren; ihn zu bestätigen, wenn er etwas beschwört; nett und freundlich zu ihm zu sein, nicht abweisend oder feindselig; ihm zu helfen, wenn er ungerecht oder ein Opfer von Ungerechtigkeit ist (ersteres bedeutet, daß wir ihn davor bewahren sollen, ungerecht zu sein; letzteres bedeutet, daß wir ihm zu Hilfe kommen sollen, wenn er ungerecht behandelt wird, um seine Rechte zu sichern); sich nicht von ihm gelangweilt oder seiner überdrüssig zu fühlen; ihn nicht inmitten seiner Schwierigkeiten im Stich zu lassen; was er für sich selbst erstrebt, das soll er auch für seinen Glaubensbruder erstreben, und was er für sich selbst verabscheut, das soll er auch für seinen Glaubensbruder verabscheuen. "

3. Die Gerechtigkeit zwischen Lebenden und Toten. Diese Art der Gerechtigkeit verlangt, daß die Lebenden freundlich an die Toten denken, ihre Schul-

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den bezahlen, ihrem Testament entsprechend handeln, für sie beten und spenden, um für sie von Gott Vergebung zu erbitten, und im Gedenken an sie Gutes tun.

Selbstentwicklung

Am Ende dieses Abschnitts ziehen wir die Schlußfolgerung, daß Gerechtigkeit die vollständigste Meisterschaft des Intellektes über alle anderen Fähigkeiten und Kräfte der menschlichen Seele bedeutet, so daß sie alle auf das letztendliche Ziel der menschlichen Vervollkommnung hin eingesetzt werden. Mit anderen Worten: der Intellekt ist der Souverän des Körpers; wenn in ihm Gerechtigkeit herrscht, dann herrscht sie auch in dem von ihm regierten Bereich, so wie sich Gerechtigkeit in der gesamten Gesellschaft verbreitet, wenn der Herrscher der Gesellschaft gerecht ist, während es in einem Land keine Gerechtigkeit geben kann, wenn der Herrscher ungerecht ist. Dies kommt in einer Erzählung zum Ausdruck: Immer wenn ein König gerecht ist, hat er Anteil am Lohn und Verdienst aller guten Handlungen seiner Untertanen; wenn er aber nicht gerecht ist, wird er als Komplize bei allen ihren Sünden und Vergehen angesehen.

Eine weitere Schlußfolgerung, die daraus gezogen werden kann, ist die, daß man andere nicht bessern kann, solange man sich nicht selbst gebessert hat. Das heißt, wenn ein Individuum nicht in der Lage ist, im Bereich seines eigenen individuellen Selbst Gerechtigkeit zur Geltung zu bringen, wie kann er sie dann unter seinen Partnern, Familienangehörigen, Mitbürgern und schließlich der ganzen Gesellschaft wirksam werden lassen? Darum hat die Selbstentwicklung Priorität vor allem anderen, und das ist nur durch die Wissenschaft der Ethik möglich.

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Krankheiten der Seele und ihre Behandlung

Bei der Diagnostizierung physischer Krankheiten sind gewisse Regeln und Vorgehensweisen zu befolgen. Zuerst muß die Krankheit identifiziert werden. Zweitens ist die Behandlungsweise zu bestimmen. Drittens muß die Behandlung mit dem Gebrauch angemessener Medikamente und dem Vermeiden schädlicher Dinge beginnen und bis zur vollständigen Genesung fortgesetzt werden.

Wie bereits erklärt wurde, entstehen die Krankheiten der Seele, wenn ihre Kräfte die Grenzen der Mäßigkeit überschreiten und sich auf die Extreme entweder des Mangels oder des Übermaßes zubewegen. Die Art und Weise, wie diese Krankheiten behandelt werden müssen, ist dieselbe wie in der Behandlung physischer Krankheiten und muß die oben erwähnten drei Stadien durchlaufen, bis vollständige Genesung eingetreten ist. Wir werden also unsere Erörterung fortsetzen und jede Krankheit beschreiben und ihre angemessene Behandlungsweise aufzeigen. Die zu untersuchenden Krankheiten sollen in folgende vier Kategorien unterteilt werden:

1. Die Krankheiten der Verstandeskraft und ihre Behandlung.

2. Die Krankheiten der Zorneskraft und ihre Behandlung.

3. Die Krankheiten der Leidenschaft und ihre Behandlung.

4.  Krankheiten, die auf eine Kombination von zwei dieser Kräfte oder allen dreien bezogen sind.

Bevor wir unsere Erörterung der Krankheiten in diesen vier Kategorien beginnen, muß festgehalten werden, daß jede einzelne dieser Kräfte in jeweils drei verschiedenen Zuständen, nämlich der Mäßigkeit, des Mangels oder des Übermasses, existieren kann. Bei der Erörterung jeder dieser Kräfte werden wir zuerst ihre Abweichungen zum Exzeß hin betrachten, die eine Art der Krankheit ist, und ihre angemessene Behandlungsweise aufzeigen. Darauf folgt dann ihre Abweichung zum Mangelzustand hin und die entsprechende Behandlungsmethode. Danach werden wir uns mit dem Mittelmaß befassen. Wir werden unser Studium der jeweiligen Kraft mit einer Untersuchung verschiedener Arten moralischer Krankheiten abschließen, die diese Kräfte heimsuchen können, sowie deren Behandlungsweise.

Krankheiten der Verstandeskraft und ihre Behandlung

Der Zustand des Exzesses:

Schläue: Dies ist eins der Laster der Verstandeskraft in ihrem Zustand des

Exzesses oder Extrems. Wenn der menschliche Intellekt von dieser Krankheit

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befallen ist, dann ist er so sehr in penible Untersuchungen und Analysen verstrickt, daß er sein Maß verliert. Mit anderen Worten: die geistige Aktivität eines Individuums bringt dieses, statt es einem Verständnis der Realität anzunähern, immer weiter davon weg und kann es sogar - wie es bei den Sophisten der Fall ist - veranlassen, die Realität zu leugnen und in Zweifel und Unentschlossenheit bezüglich des religiösen Gesetzes und seiner Anwendung steckenzubleiben.

Diese tödliche Krankheit ist dadurch zu behandeln, daß sich das Individuum zuerst ihrer Gefahr bewußt wird, darüber nachdenkt und dann Anstrengungen unternimmt, den Geist zu zwingen, sich in den Grenzen der Mäßigkeit zu halten. Mit Vernunft als Richtschnur und dem Denken und Urteilen normaler Menschen als Kriterium sollte es sein eigenes Denken und Urteilen überprüfen und ständig auf der Hut sein, bis es den Zustand der Mäßigkeit erreicht.

Der Mangelzustand

Einfache Unwissenheit: Diese Krankheit wird durch einen Mangel der Verstandeskraft in einem Individuum verursacht, und man sagt, sie besteht dann, wenn dem Individuum Wissen und Gelehrsamkeit fehlen, es sich jedoch seiner Unwissenheit bewußt ist. Dies steht im Gegensatz zu "zusammengesetzter Unwissenheit" - einem Zustand, in dem es sich nicht nur seiner Unwissenheit nicht bewußt ist, sondern sich selbst für wissend hält. Offensichtlich ist die Behandlungsweise für die "einfache Unwissenheit" leichter als für die "zusammengesetzte Unwissenheit". Um "einfache Unwissenheit" zu heilen ist es lediglich notwendig, die bösen Folgen der Unwissenheit zu untersuchen und die Tatsache zu erkennen, daß der Vorzug des Menschen gegenüber den übrigen Tieren in Wissen und Gelehrsamkeit liegt. Zusätzlich dazu sollte er die Bedeutung von Wissen und Gelehrsamkeit zur Kenntnis nehmen, wie sie von der Vernunft und auch von der Offenbarung bestätigt wird. Die Folge einer solchen Betrachtung und Reflexion wäre dann ein automatischer Wunsch, zu lernen. Er soll diesem Wunsch mit größtem Eifer nachgehen und nicht die geringste Spur von Zögern oder Zweifeln in seinen Geist eindringen lassen.

Der Zustand der Mäßigkeit

Wissen und Weisheit: Dieser Zustand liegt zwischen den beiden Extremen der "Schläue" und der "einfachen Unwissenheit". Zweifellos sind Wissen und Weisheit zwei der erhabensten Eigenschaften, die der Mensch besitzen kann. So wie sie auch die wichtigsten und edelsten göttlichen Attribute sind. In der Tat sind es diese Charakteristika, die den Menschen Gott näherbringen. Dies ist darum der Fall, weil die Fähigkeit eines Menschen zur Abstraktion

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(taJarrud) um so größer ist, je größer sein Wissen und seine Gelehrsamkeit sind; denn im Studium der Philosophie hat sich erwiesen, daß Wissen und Abstraktion komplementär sind. Je größer also der Grad der Abstraktion im Geist ist, um so näher ist der Mensch dem göttlichen Wesen, dessen Idee im menschlichen Geist die höchste Abstraktion ist. Zum Lob von Wissen und Weisheit sagt der Heilige Qur'an: "Und wem Weisheit gegeben ward, dem ward viel Gutes gegeben." (Sure 2, Vers 296) und:

"Und jene Gleichnisse - Wir prägen sie für die Menschen, aber niemand begreift sie außer den Wissenden." (Sure 29, Vers 43)

Vom Propheten (s.a.s.) wird berichtet, daß er zu Abu Darr sagte: "Eine Stunde lang in einer gelehrten Versammlung zu sitzen ist vor Gott besser, als tausend Nächte, in denen jeweils tausend Gebete verrichtet werden, und besser, als tausend Kämpfe (für Gottes Sache), und besser, als ein ganzes Jahr des Gottesdienstes, in dem man jeden Tag fastet und jede Nacht im Gebet verbringt. Wenn jemand sein Haus mit der Absicht verläßt, Wissen zu erwerben, dann wird Gott ihm für jeden Schritt, den er tut, den für einen Propheten bestimmten Lohn zukommen lassen sowie den Lohn wie für tausend Märtyrer von Badr. Und für jedes Wort, das er hört oder schreibt, wird für ihn eine Stadt im Paradies bereitgestellt. "

Im Islam sind sowohl für Lehrer als auch für Schüler bestimmte Anstandsre-geln vorgesehen, die in anderen Büchern ausführlich erläutert werden, am besten vielleicht in Adab al-muta7allimin von Zayn-ul-Din ibn 7Ali al-7Amili (1495-1559 n. Chr.) Hier erwähnen wir nur einige Punkte zum angemessenen Verhalten für Schüler und Lehrer:

1.  Der Schüler soll darauf verzichten, seinen eigennützigen und begehrenden Neigungen zu folgen, sowie auf die Gesellschaft weltlich gesinnter Menschen, denn sie verhindern wie ein Schleier den Zugang zum göttlichen Licht.

2.  Die einzige Motivation für sein Studium soll darin liegen, Gottes Wohlgefallen und Glückseligkeit im zukünftigen Leben zu erlangen; nicht im Erlangen irdischen Reichtums, Berühmtheit und Ehre.

3. Der Schüler soll alles in die Tat umsetzen, was er lernt und versteht, so daß Gott sein Wissen vermehrt. Vom Propheten (s.a.s.) wird berichtet, daß er sagte: "Wer Wissen von den Wissenden erwirbt und dementsprechend handelt, wird gerettet, und wer Wissen um dieser Welt willen erwirbt, der bekommt nur diese (und dann keinen Lohn im zukünftigen Leben). "

4.  Der Schüler soll seinen Lehrer ehren und ihm gegenüber bescheiden und gehorsam sein.

Angemessenes Verhalten für den Lehrer besteht aus folgendem:

1. Er soll um Gottes willen lehren und nicht um irdischer Ziele willen.

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2.  Der Lehrer soll seinen Schüler ermutigen und führen, freundlich zu ihm sein und zu ihm auf seiner Verständnisebene sprechen.

3.  Der Lehrer soll sein Wissen nur denjenigen übertragen, die dessen würdig sind; nicht denjenigen, die dessen unwürdig sind oder es vielleicht mißbrauchen.

4.  Der Lehrer soll nur von dem sprechen, was er weiß, und auf Themen verzichten, von denen er nichts weiß.

Hier ist es notwendig, zu erklären, was wir unter Wissen und Gelehrsamkeit und der Art der Gelehrsamkeit verstehen, von der wir sprechen. Mit anderen Worten, es stellt sich die Frage, ob Ehre und Respekt für Wissen und Gelehrsamkeit, wie sie für den Islam charakteristisch sind, für alle Wissenschaften gelten oder nur für einige. Die Antwort ist die, daß Wissensgebiete in zwei Gruppen unterteilt werden können: erstens die Wissenschaften, die mit dieser Welt zu tun haben wie Medizin, Geometrie, Musik, usw.; zweitens die Wissenschaften, die sich mit der spirituellen Entwicklung des Menschen befassen. Diese letztere Art der Gelehrsamkeit wird von den heiligen Lehren des Islam sehr geehrt. Allerdings wird auch die erstere Gruppe von Wissenschaften als wichtig angesehen, und ihre Pflege ist waJib kifa'i für alle Muslime; d.h., alle Muslime sind verpflichtet, sie in dem Maße zu pflegen, wie es notwendig ist, um die Bedürfnisse der muslimischen Gemeinschaft zu erfüllen. Jene Wissenschaften, die für die spirituelle Entwicklung des Menschen notwendig sind, sind folgende: Kenntnis der Prinzipien der Religion (usul al-din oder islamische Lehren), Ethik (avlaq) - die formuliert wurde, um den Menschen zu jenen Dingen zu führen, die sein Heil bewirken, und von den Dingen fernzuhalten, die zum Untergang führen - und die Rechtswissenschaft (fiqh) - die sich mit den individuellen und gesellschaftlichen Pflichten der Menschen vom Standpunkt des islamischen Gesetzes her befaßt.

Andere Laster der Verstandeskraft

1. Zusammengesetzte Unwissenheit

Zusammengesetzte Unwissenheit ist, wie zuvor erläutert, die Art der Unwissenheit, bei der man nicht weiß und sich darüber hinaus der Tatsache, daß man nicht weiß, nicht bewußt ist. Dies ist eine tödliche Krankheit, deren Heilung äußerst schwierig ist. Dies liegt daran, daß die "zusammengesetzt unwissende" Person keinen Mangel bei sich selbst sieht und ihr insofern die Motivation fehlt, etwas dagegen zu tun. Auf diese Weise bleibt sie bis zum Lebensende unwissend und wird von den unheilvollen Folgen zerstört. Um diese

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Art der Unwissenheit zu heilen, müssen wir ihre Wurzeln ergründen. Wenn die Ursache für die zusammengesetzte Unwissenheit eines Menschen in einer Neigung zum verzerrten Denken liegt, ist die beste Behandlung, exakte Wissenschaften wie Geometrie oder Arithmetik zu erlernen, wodurch sein Geist von Wirrheit und Trägheit befreit und zu Beständigkeit, Klarheit und Mäßigung angeleitet wird. Als Ergebnis davon wird zusammengesetzte Unwissenheit in einfache Unwissenheit verwandelt, und das betroffene Individuum kann zum Streben nach Wissen stimuliert werden. Wenn die Ursache des Lasters in seiner Argumentationsweise begründet liegt, sollte das Individuum seine Argumentationsweise mit der von Forschenden und klar denkenden Menschen vergleichen, so daß es seinen Fehler erkennt. Wenn die Ursache seiner Unwissenheit in anderen Dingen liegt, wie etwa blinden Vorurteilen und Nachahmung, sollte es versuchen, sie zu beseitigen.

2. Verwirrung und Zweifel

Eine weitere Krankheit, die die Verstandeskraft befallen kann, ist das Laster von Zweifel und Verwirrung, das den Menschen außerstande setzt, richtig von falsch zu unterscheiden. Diese Krankheit wird gewöhnlich durch das Auftreten zahlreicher widersprüchlicher Beweisstücke verursacht, die ihn verwirren und unfähig machen, eine endgültige Schlußfolgerung zu erreichen. Um diese Krankheit zu heilen muß das Individuum zunächst die axio-matischen Prinzipien der Logik betrachten, wie das Gesetz des Widerspruches, den Grundsatz, daß das Ganze größer ist als eines seiner Teile, das Gesetz der Identität, usw., und dann seine gesamte folgende Argumentation darauf begründen, wobei er erkennt, daß die Wahrheit eine ist, und daß außer der Wahrheit alle anderen Schlußfolgerungen falsch sind. Auf diese Weise kann er das Gewebe widersprüchlicher Gedanken, die ihn verwirren, durchtrennen.

Das Gegenstück zu Unwissenheit, Verwirrung und Zweifel ist Gewißheit, und das ist nichts anderes als dauerhafte, gewisse Überzeugung, die der Realität entspricht und durch keinerlei Zweifel erschüttert werden kann, wie stark diese auch sein mögen. Dies ist besonders wichtig in bezug auf die Theologie und ihre verschiedenen Teilgebiete. Mit anderen Worten, der Glaube an Gottes Existenz, Seine affirmativen und negativen Attribute, das Prophetentum, die Auferstehung und alles damit Verbundene sollte so stark sein, daß es nicht durch irgendwelche Zweifel erschüttert werden kann. Der Zustand der Gewißheit ist einer der höchsten menschenmöglichen Zustände und wird nur von sehr wenigen Menschen erlangt. Dem Propheten (s.a.s.) wird ein Ausspruch zugeschrieben, der besagt: "Gewißheit ist vollständiger Glaube."

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Es wird berichtet, daß Imam ja7far as-Sadiq (a.s.) sagte: "Gott, der Höchste, hat in Seiner allumfassenden Gerechtigkeit Glück und Zuversicht mit Gewißheit und Zufriedenheit (d.h. Ergebung in Gottes Willen) verknüpft, Sorge und Schmerz hingegen mit Zweifel und Ablehnung (bezüglich des göttlichen Willens) verbunden."

Merkmale der Menschen mit innerer Überzeugung

Gewisse Merkmale sind mit dem Zustand der Gewißheit verknüpft, an denen sich jeder messen kann, um den Grad seiner eigenen Überzeugung zu bestimmen. Diese Merkmale sind folgende:

1. Vertrauen auf Gott in allen Angelegenheiten und ein Bewußtsein, das allein auf Sein Wohlgefallen ausgerichtet ist. Um es kurz und bündig auszudrücken: man sollte fest daran glauben, daß es "keine Macht und Kraft (in der Welt) außer bei (oder durch) Gott, dem Höchsten, dem Größten," gibt.

2.  Demut vor Gott, sowohl innerlich als auch äußerlich, zu jeder Zeit und unter allen Umständen, und Gehorsam gegenüber Seinen Geboten bis ins kleinste Detail.

3.  Besitz außergewöhnlicher - beinahe wunderbarer - Kräfte dadurch, daß man Gott nahesteht - ein Zustand, der dann entsteht, wenn man seine eigene Bedeutungslosigkeit und Schwäche vor Seiner Größe und Erhabenheit erkannt hat.

Stadien der Gewißheit

1.  7Ilm al-yaqin: sichere und dauerhafte Überzeugung eines Menschen, der, wenn er Rauch sieht, mit Gewißheit daran glaubt, daß es da auch Feuer geben muß.

2.  7Ayn al-yaqin: etwas sehen, entweder mit dem äußeren oder mit dem inneren Auge. Es ist wie die Überzeugung eines Menschen, der nicht nur den Rauch, sondern auch das Feuer selbst sieht.

3.  Haqq al-yaqin: das Stadium der Gewißheit, das erlangt wird, wenn eine Form der spirituellen und tatsächlichen Einheit zwischen dem Wissenden und dem Gewußten existiert. Dies wäre beispielsweise der Fall, wenn sich jemand selbst inmitten des in den obigen Beispielen erwähnten Feuers befände. Das wird als "Vereinigung des Wissenden und des Gewußten" bezeichnet und wird an einer angemessenen Stelle erörtert.

Um haqq al-yaqin zu erlangen, muß man einige notwendige Voraussetzungen erfüllen, und zwar folgende:

l. Die individuelle Seele muß die Fähigkeit haben, diese Wahrheiten zu empfangen und zu begreifen: die Seele eines Kindes kann beispielsweise nicht die Realität der Dinge erfassen.

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2.  Die Seele sollte nicht durch Unehrenhaftigkeit und Sünde verunreinigt sein.

3.  Völlige Aufmerksamkeit muß auf das in Frage stehende Ziel konzentriert werden, und der Geist muß frei sein von der Trübung durch weltliche und niedrige Interessen.

4. Man muß von blinder Nachahmung und Vorurteilen aller Art frei sein.

5.  Um das Ziel zu erreichen, müssen die entsprechenden und notwendigen Vorbereitungen getroffen werden.

3. Polytheismus

Pirk (Polytheismus) ist eine weitere schwere Krankheit der Seele und ein Zweig der Unwissenheit. Er besteht in dem Glauben, andere Kräfte neben Gott spielten eine Rolle bei der Steuerung der Angelegenheiten in der Welt. Wenn jemand diese Kräfte verehrt, bezeichnet man dies als pirk 7ibadi (Polytheismus in der Anbetung), und wenn er ihnen gehorcht, wäre das pirk 'ixa Qi (Polytheismus im Gehorsam). Die erstere Art nennt man auch pirk Jali (manifester Polytheismus), und die zweite nennt man auch pirk vafi (verborgener Polytheismus). Wahrscheinlich bezieht sich der Qur'anvers "Und die meisten von ihnen glauben nicht an Allah, ohne Ihm Partnerwesen zur Seite zu setzen..." (Sure 12, Vers 106) auf die zweite Art von pirk. Der Gegensatz zu pirk ist tawhid (Monotheismus), was bedeutet, daß es keine Macht im Universum gibt außer der des Allmächtigen Gottes. Tawhid hat Stadien, nämlich folgende:

1.  Mündliches Bekenntnis oder Annahme von tawhid; d.h. Aussprechen des Satzes "La ilaha illallah" (es gibt keinen Gott außer Allah), ohne im Herzen daran zu glauben.

2.  Glaube im Herzen, während die obige Aussage des Monotheismus mit der Zunge gemacht wird.

3.  Erkenntnis der Einheit Gottes durch Epiphanie und Erfahrung des Numi-nosen. Mit anderen Worten: man entdeckt, daß die weitere Vielfalt der Geschöpfe ihre Existenz von dem Einen Gott her gewinnt und erkennt, daß keine Macht außer Gottes Macht im Universum wirksam ist.

4.  Man sieht nichts in der Welt außer dem göttlichen Wesen und nimmt alle Geschöpfe als Emanation und Reflexionen dieses Wesens wahr. Diese Stadien des Tawhid-Glaubens führen uns zur Erkenntnis der Krankheitsursachen des pirk. Die Grundursache des pirk besteht in einem Verstricktsein in der materiellen Welt und Vergeßlichkeit in bezug auf Gott. Um es zu heilen, muß man über die Schöpfung der Himmel und der Erde und der unzähligen Geschöpfe Gottes meditieren. Dies erweckt vielleicht in einem Menschen eine Wertschätzung für Gottes Herrlichkeit. Je tiefer die Meditation und die

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Kontemplation der Schönheit des Universums und der Geheimnisse seiner Schöpfung, um so größer wird der Glaube an die Existenz und Einheit Gottes. Der Qur'an sagt dazu: "Diejenigen, die Allahs gedenken im Stehen, im Sitzen und wenn sie auf der Seite liegen, und nachdenken über die Schöpfung der Himmel und der Erde (und sprechen): 'Unser Herr, Du hast dies alles nicht umsonst erschaffen. Preis sei Dir! Errette uns denn vor der Strafe des Feuers.'" (Sure 3, Vers 191)

Von Imam al-Riwa (a.s.) wird berichtet, daß er gesagt hat: "Gottesdienst besteht nicht im häufigen Gebet und Fasten, sondern in der Menge des Nachdenkens über Gottes Wirken."

4. Satanische Versuchungen und Bewußtsein

Was immer in das menschliche Bewußtsein gelangt, geschieht entweder durch das Einwirken der Engel der Gnade oder aber des Teufels. Wenn es göttlich ist, nennt man es Inspiration (ilham), und wenn es durch den Teufel verursacht wird, nennt man es Versuchung (waswas). Die menschliche Seele ist ein Schlachtfeld, auf dem das Heer der Engel und das Heer der Teufel miteinander in den Kampf verwickelt sind, und der Mensch hat die Wahl, eine der beiden Seiten zu bestätigen. Wenn die Armee des Teufels gestärkt wird, dann wird der Mensch der dämonischen Versuchung unterworfen, und seine äußerlichen Handlungen spiegeln seinen inneren Zustand wieder. Wenn aber die göttlichen Kräfte verstärkt werden, dann wird das Individuum zur Verkörperung göttlicher Attribute und Eigenschaften.

Der Heilige Qur'an berichtet, wie Satan schwor, die Menschheit zu verleiten und zur Sünde zu verführen:

"Er sagte: 'Da Du mich nun also irregeführt hast, will ich ihnen wahrhaftig auflauern auf dem Geraden Weg. Dann komme ich über sie von vor ihnen und hinter ihnen und von ihrer Rechten und von ihrer Linken...'" (Sure 7, Verse 16 und 17)

Über die Menschen, die dem Teufel nachgeben, sagt der Qur'an: "...Sie haben Herzen, aber verstehen nicht damit, und Augen, aber sie sehen nicht damit, und Ohren, aber sie hören nicht damit. Sie sind wie das Vieh -nein, sie sind schlimmer. Sie sind die Achtlosen. " (Sure 7, Vers 179) Und über diejenigen, die sich vom Teufel nicht beeinflussen lassen, sagt der Qur'an: "Was jedoch die betrifft, die an Allah glauben und an Ihm festhalten, so wird Er sie in Seine Barmherzigkeit und Gnade eingehen lassen und sie auf einem geraden Weg zu sich führen." (Sure 4, Vers 175) Dämonische Versuchungen werden durch Nachdenken über das zukünftige Leben bekämpft. Wenn man über die Konsequenzen nachdenkt, die ein Befolgen von Satans Ratschlägen mit sich bringt, und die Zukunft, die aufgrund

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eines solchen Gehorsams wartet, wird man den rechten Weg finden und von solchen Versuchungen befreit sein. Wenn man den rechten Weg findet, wird Gott auch zu Hilfe kommen und zu letztendlichem Glück und zu Seligkeit führen wie aus dem oben erwähnten Vers deutlich hervorgeht.

5. Betrügerei und List

List ist ein weiteres Laster, daß der Verstandeskraft zugehört, und erscheint durch die Vermittlung satanischer und boshafter Wünsche der Kräfte der Leidenschaft und des Zorns. List und Betrügerei werden definiert als bewußtes Planen gegen andere und Ausarbeitung ausführlicher und detaillierter Strategien, um ihnen zu schaden. Dieses Laster ist fatal, denn das davon befallene Individuum wird als Angehöriger der Partei des Teufels angesehen. Der Prophet sagte dazu: "Wer gegen einen Muslim intrigiert, gehört nicht zu uns. " Die Behandlungsmethode für diese tödliche Krankheit besteht darin, daß sich der Betroffene der gefährlichen Konsequenzen dieser Sünde bewußt wird und erkennt, daß man, wenn man anderen eine Grube gräbt, selbst hineinfällt, indem man seine Strafe selbst in dieser Welt erhält. Er sollte sich auch einmal selbst fragen, warum er, statt zu anderen freundlich und gut zu sein, gegen sie intrigiert.

Krankheiten der Zorneskraft und ihre Behandlung

Wie bereits gesagt wurde, hat die Zorneskraft drei Zustände: Mangel, Mittelmaß und Überschuß, von denen jeder jetzt ausführlich erörtert werden soll.

Der Zustand des Überschusses

Tollkühnheit: Tollkühnheit ist eine Krankheit der Zorneskraft, ist rücksichtsloses Sichhineinstürzen in gefährliche und tödliche Situationen trotz der Warnungen, die sowohl von der Vernunft als auch der Religion ausgehen. Der Heilige Qur'an verbietet dies ausdrücklich, wenn er sagt: "...und stürzt euch nicht mit eigener Hand ins Verderben..." (Sure 2, Vers 195) Die Heilungsmethode für Tollkühnheit besteht darin, sorgfältig nachzudenken, bevor man eine bestimmte Vorgehensweise einschlägt, um zu sehen, ob die Vernunft und die Religion dieser zustimmen oder nicht. Wenn sie ihre Zustimmung findet, kann man danach handeln, aber man muß darauf verzichten, wenn eins davon dieser widerspricht. Es kann für den Betroffenen sogar notwendig sein, auf Handlungen zu verzichten, deren Gefahr gar nicht so groß ist, um seine Neigung zur Tollkühnheit zu zügeln. Er soll diese Maßnahmen fortsetzen, bis er sicher ist, von diesem Laster völlig geheilt zu sein,

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und bis der Zustand der Mäßigkeit, nämlich Mut, erreicht ist. Wenn er diesen Zustand erlangt hat, soll er versuchen, ihn zu bewahren.

Der Mangelzustand

Feigheit: Feigheit ist Ängstlichkeit in einer Situation, die sofortiges aktives Handeln erfordert. Feigheit, das Gegenteil zu einem zornigen und gewaltsamen Temperament, führt zu Minderwertigkeitsgefühlen, Unentschlossenheit, Melancholie und mangelndem Selbstvertrauen. In einer auf den Heiligen Propheten (s.a.s.) zurückgeführten Überlieferung heißt es: "O Allah, ich suche Zuflucht bei Dir vor Geiz und Feigheit. "

Die Behandlungsmethode für die Krankheit der Feigheit besteht darin, in sich selbst Zorn und gewaltsame Gefühlsregungen zu stimulieren, und heftige Handlungsweisen einzuschlagen, wenn dies nicht zu gefährlich ist, bis die Seele einen Zustand des Mutes verlangt, der der maßvolle Zustand der Zorneskraft ist. Der Betroffene muß dann auf der Hut sein, aus diesem maßvollen Zustand nicht in den Zustand des Überflusses zu verfallen.

Das Ebenmaß

Mut: Mut ist die Manifestation der Zorneskraft in ihrem maßvollen Zustand, und er wird definiert als Unterordnung der Zorneskraft unter die Kraft des Intellekts. Diese Unterordnung ist ein höchst bewundernswerter Charakterzug und die Ursache zahlreicher spiritueller Tugenden. Sie wird erlangt nach erfolgreichem Kampf gegen Tollkühnheit und Feigheit als Ergebnis ständigen Strebens und Übens.

Andere Laster der Zorneskraft

Die Zorneskraft kann von siebzehn verschiedenen Lastern befallen werden, die wir nun kurz beschreiben wollen.

1. Furcht

Furcht (vawf) ist eine unbehagliche Erwartung, daß vielleicht etwas Unangenehmes geschieht. So fürchtet man sich beispielsweise, ein Schiff zu besteigen oder ganz allein in einem Haus zu schlafen. Es ist deutlich, daß ein Unterschied zwischen Feigheit und Furcht besteht.

Furcht ist von zweierlei Art. Erstens gibt es die Gottesfurcht und die Furcht vor der Sünde und göttlicher Strafe. Zweitens gibt es die Furcht vor Dingen außer Gott. Die erste Art von Furcht ist lobenswert und führt den Menschen

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zur Vervollkommnung; wohingegen die zweite Art Furcht ein unerwünschtes Laster ist, das durch die Krankheit der Feigheit verursacht wird. Unangemessene Angst wird durch die Möglichkeit verursacht, daß entweder einem selbst oder jemandem, der einem lieb und teuer ist, etwas Unangenehmes geschieht. So kann man beispielsweise Angst vor dem Tod haben, vor einer tödlichen Gefahr, vor Toten, vor Dämonen usw. Die Grundursache dieser Angst ist spirituelle Schwäche, die durch Selbstprüfung behoben werden kann. Wenn man beispielsweise erkennt, daß man nichts tun kann, um eine gewisse oder mögliche Gefahr abzuwenden, und daß Angst nicht dazu beitragen kann, sie abzuwenden, dann wird man allmählich seine Angst verlieren. Wenn Todesangst durch eine unangebrachte Liebe zur Welt und zu den materiellen Dingen verursacht wird, soll man diese Anhaftung vermindern.

Einige Ängste haben imaginäre Ursachen, so etwa die Angst vor Dunkelheit oder vor Toten. In solchen Fällen sollte man seine Phantasien beiseite lassen und seine Seele stärken. Die angemessene und lobenswerte Art der Furcht ist die vor Gottes Größe und Erhabenheit. Diese Furcht wird auch "vapyah" oder "rahbah" genannt. Sie ist auch die Furcht vor den Sünden, die man begangen hat, und vor deren Strafe. Je größer diese Furcht ist, um so größer ist der Beitrag, den sie zur spirituellen Entwicklung und Vervollkommnung leisten kann. Je größer und tiefer darüber hinaus das Verständnis und Wissen von Gott ist, um so größer ist die Furcht vor Seiner Macht. Der Heilige Qur'an sagt: "... Nur diejenigen Seiner Diener fürchten Allah, die Wissen haben...." (Sure l35, Vers 28) In den Berichten vom Leben heiliger Menschen finden wir somit, daß sie gelegentlich aufgrund der Intensität ihrer Gottesfurcht in Ohnmacht fielen. Intensive Gottesfurcht ist die beste Kontrollkraft über den menschlichen Geist, denn sie schwächt alle lustbetonten und eigennützigen Wünsche, hält das Selbst von Rebellion und Sünde fern und zähmt das menschliche Herz zur Unterwerfung unter die göttlichen Gebote. Darüber hinaus vernichtet Gottesfurcht alle anderen Befürchtungen und macht den Menschen stark in der Auseinandersetzung mit Ungerechtigkeit, Tyrannei und Unterdrückung. Über solche Personen sagt der Heilige Qur'an: "...Sie sind in Sicherheit, und sie sind rechtgeleitet." (Sure 6, Vers 82) "...Darum fürchtet nicht die Menschen, sondern fürchtet Mich..." (Sure l5, Vers 44) "...Allah ist mit ihnen zufrieden, und sie sind zufrieden mit Ihm; das ist für denjenigen, der seinen Herrn fürchtet." (Sure 98, Vers 8) Und: "Derjenige jedoch, der die Begegnung mit seinem Herrn fürchtete und seine Seele von der Begierde fernhielt, dessen Wohnstatt wird sicherlich das Paradies sein." (Sure 79, Verse 40 und 41) Und vom Propheten (s.a.s.) wird berichtet, daß er

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sagte: "Wenn jemand Allah fürchtet, dann läßt Er alle Dinge ihn fürchten, und wenn jemand Allah nicht fürchtet, dann läßt Er ihn alle Dinge fürchten. " Es gibt viele Qur'anverse sowie Überlieferungen über die Verdienste der Gottesfurcht; um der Kürze willen müssen wir jedoch darauf verzichten, sie alle hier zu erwähnen. Wir müssen im Auge behalten, daß man auch bei der Gottesfurcht achtgeben muß, sich innerhalb der Grenzen der Mäßigung zu bewegen, so daß man dadurch nicht alle Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit verliert, denn die Hoffnung auf Gottes Gnade und Barmherzigkeit zu verlieren ist an sich eine große Sünde. Der Qur'an sagt: "Und wer verzweifelt an der Barmherzigkeit seines Herrn außer den Irregeleiteten? " (Sure 15, Vers 56) Wenn die Furcht vor Gott zu einem solchen Extrem gelangt ist, muß sie mit raJa' oder Hoffnung auf Gottes Barmherzigkeit ausgeglichen werden; denn mit Hilfe der beiden Flügel Furcht und Hoffnung steigt ein Individuum zu den höchsten Ebenen menschlicher Vollkommenheit auf. Der Qur'an spricht diesen Punkt mit folgenden Worten an: "Verkünde meinen Dienern, daß Ich der Allvergebende, der Allbarmherzige bin, und daß Meine Strafe eine schmerzliche Strafe ist." (Sure 15, Verse 49 und 50)

2. Selbstverachtung oder Minderwertigkeitskomplex

Dieses durch Feigheit verursachte Laster ist ein Zustand, der entsteht, wenn ein Individuum, dem der Mut fehlt, sich in wichtige Angelegenheiten positiv einzubringen, es versäumt, seine gesellschaftlichen Pflichten zu erfüllen, wie beispielsweise die, andere davon zu überzeugen, rechtschaffen zu handeln, und sie von bösen Handlungen abzubringen. Die Behandlung dieser Krankheit ist dieselbe, wie sie im Falle der Feigheit geschildert wurde. Das von diesem moralischen Laster befallene Individuum sollte wissen, daß jemand, der wahrhaft an Gott glaubt, niemals in Schande gerät, und daß Gott dem Gläubigen Ehre und Würde gegeben hat. Der Heilige Qur'an sagt: "...die Ehre gebührt Allah und Seinem Gesandten und den Gläubigen..." (Sure 63, Vers 8) Es gibt eine Überlieferung, die besagt: "Allah hat dem Gläubigen die Pflicht auferlegt, alles (zu ertragen) außer Selbstverachtung. "

Der entgegengesetzte Charakterzug zur Selbstverachtung ist Charakterstärke und Selbstrespekt: das heißt, man soll ein Temperament erlangen, das durch Angenehmes oder Schmerzhaftes nicht aus dem Gleichgewicht gebracht wird, sei es Lob oder Tadel. Von Imam al-Baqir (a.s.) wurde überliefert: "Der Gläubige ist fester als ein Berg." Nach einer anderen Überlieferung sagte er: "Allah hat dem Gläubigen drei Eigenschaften gegeben; Ehre in dieser Welt und im zukünftigen Leben, Heil in beiden Welten und Furcht vor ihm in den Herzen der Ungerechten."

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3.  Schüchternheit

Das bedeutet ein Minderwertigkeitsgefühl, das dazu führt, daß man sich nicht bemüht, die Höhen der Vervollkommnung zu erreichen, die dem Menschen offenstehen, und sich mit niedrigeren und rudimentären Zielsetzungen zufriedengibt. Ihr Gegenstück ist der Charakterzug der Zuversicht, der eine Bereitschaft ist, sich Mühe zu geben, um Glückseligkeit in dieser und der nächsten Welt sowie Vollkommenheit zu erlangen. Die Tugend der Zuversicht entsteht durch spirituelle Qualitäten wie Standhaftigkeit, Mut und Selbstrespekt. Die Behandlung der Schüchternheit entspricht der im Falle von Feigheit - dem Ursprung aller Laster dieser Klassen - angewendeten.

4. Mangelndes Selbstwertgefühl

Dieses Laster besteht in fehlender Aufmerksamkeit und dem Versäumnis, Dinge zu beachten, die Beachtung und Sorgfalt verdienen, wie Glaube, Ehre, Kinder und Eigentum. Dieses Laster wird durch Charakterschwäche und einen Minderwertigkeitskomplex verursacht. Sein Gegenstück ist gesundes Selbstwertgefühl und Eifer dafür, und das sind lobenswerte Tugenden des Menschen. In bezug auf die Religion beinhaltet dies auch die Bemühungen, sich Abweichungen fernzuhalten, Eifer bei ihrer Verkündung, Bemühungen, die religiösen Gebote selbst zu erfüllen und andere zu ihrer Erfüllung zu bewegen. Bezüglich der eigenen Ehre bedeutet es, den Selbstrespekt zu wahren und sich um den Schutz der eigenen Ehre zu bemühen. Bezüglich der Kinder bedeutet es, sich um ihre richtige Erziehung und eine gesunde ethische und kulturelle Entwicklung zu kümmern, so daß sie eine frühzeitige moralische Bildung erhalten, die dann ein Teil ihrer Persönlichkeit wird. Der Islam betont in besonderem Maße die Pflichten der Eltern bei der Bildung und Erziehung ihrer Kinder. Dies wird ausführlich in Büchern über die Überlieferungen erörtert.

Bezüglich des Eigentums und Besitzes bedeutet es, daß man sie immer als Teil des göttlichen Segens und als ein von Gott anvertrautes Gut betrachten soll. Man soll auf übermäßigen Konsum und Verschwendung verzichten, seine religiösen Pflichten erfüllen und nicht vergessen, den Bedürftigen zu helfen.

5. Hast

Dies ist ein Zustand, der eine Person veranlaßt, abrupt Entscheidungen zu treffen und ohne Nachdenken zu handeln. Auch dieser Zustand ist eine Folge von Charakterschwäche und eines Minderwertigkeitskomplexes. Sein Gegenstück ist die Tugend der Rücksichtnahme in Wort und Tat. Die Folgen der Hast sind schädlich und von Bedauern und Reue begleitet. In vielen Fällen

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können durch hastiges Handeln verursachte Schäden nicht wiedergutzumachen sein.

Um das Laster der Hast zu heilen, muß man seine schrecklichen Folgen verstehen und sich an würdevolles Verhalten und Rücksicht gewöhnen.

6. Negative Gefühle gegenüber dem Schöpfer und Seiner Schöpfung

Dies ist ein Zustand, der auftritt, wenn ein Individuum Mißtrauen und Zynismus gegenüber Gott, Seinen Geschöpfen und ihrem Wirken hegt, indem es alles auf negative Art und Weise interpretiert. Es ist ebenfalls eine Folge von Feigheit und das Produkt eines Minderwertigkeitskomplexes, denn eine charakterschwache Person handelt den Eindrücken entsprechend, die ihre Phantasie hervorbringt. Im Gegensatz zu diesem Charakterzug steht Gutwilligkeit und Vertrauen in bezug auf Gott und Menschen; das bedeutet, allem gegenüber eine positive Haltung zu haben, bis das Gegenteil klar erwiesen ist. Der Qur'an sagt: "...Ihr hegtet schlimme Gedanken, und ihr wart ein wertloses Volk." (Sure 48, Vers 12)

Imam 7Ali (a.s.) sagte: "Denke wohlgesonnen über das, was dein Bruder tut, bis du etwas findest, das das Gegenteil beweist; hege kein Mißtrauen gegenüber dem, was er sagt, solange es möglich ist, es als richtig und gut zu betrachten. "

Die Methode, diesem Laster entgegenzuwirken, besteht darin, das zu übersehen, was man über seinen Glaubensbruder sehen oder hören mag, und von ihm im Herzen eine wohlgesonnene Meinung zu bewahren und eine respektvolle und liebevolle Haltung ihm gegenüber aufrechtzuerhalten.

7.  Zorn

Zorn ist einer der Seelenzustände und hat drei Stadien:

a)  Das Stadium des Übermaßes, das als das definiert wird, was einen Menschen außerhalb der Grenzen der Religion und ihrer Gesetze stellt.

b)  Das Mangelstadium, das als ein Zustand definiert wird, in dem jemand versäumt, heftig zu handeln, selbst wenn es zur Selbstverteidigung nötig ist.

c) Das Stadium des Mittelmaßes, in dem Zorn in angemessenen und zulässigen Umständen entsteht. Auf diese Weise wird deutlich, daß das erste und zweite Stadium zu den Lastern der Seele gehört, während das dritte zu den ethischen Tugenden gehört, die vom Mut hervorgebracht wurden. Übermäßiger Zorn ist eine tödliche Krankheit, die als eine Art Wahnsinn angesehen werden kann. Wenn er verfliegt, folgt unmittelbar darauf Bedauern und Reue, die gesunde Reaktionen einer vernünftigen Person darstellen. Imam 7Ali (a.s.) sagte: "Zorn ist ein Wahnsinnsfall, denn der Betroffene verspürt hinterher Bedauern und Reue. Wenn jemand nach einem Zornausbruch

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kein Bedauern verspürt, bedeutet das, daß sein Wahnsinn dauerhaft geworden ist."

Darüber hinaus ist vollständiges Fehlen von Zorn ebenfalls ein Laster, das den Menschen in Demütigung und Unterwerfung hineinzieht und in die Unfähigkeit, seine Rolle zu verteidigen. Um übermäßigen Zorn zu heilen, muß man zuerst seine Ursachen ausschalten. Diese können Stolz, Eigennutz, Eigensinn, Gier und ähnliche Laster dieser Art sein. Man muß auch in Betracht ziehen, wie unangemessen übermäßiger Zorn ist und wie übel seine Folgen sein können. Zweitens muß man den Nutzen von Langmut und Selbstbeherrschung untersuchen und sich in der Gesellschaft von Menschen aufhalten, die diese Eigenschaften besitzen. Man muß auch erkennen, daß Gottes Macht allen überlegen ist und alles Seiner Befehlsgewalt untersteht, so daß man seine eigene Schwäche im Vergleich zu Gottes unendlicher Macht erkennt. Drittens sollte man wissen, daß eine Person im Zustand des Zorns bei Gott nicht beliebt ist; darüber hinaus könnte man ja in seinem Zorn etwas tun, weswegen man sich später schämt.

Das Gegenstück ist Milde und Langmut, Eigenschaften, die zu den vollkommenen Eigenschaften der Seele zählen. Sie machen eine Person vergebungsbereit und barmherzig, obwohl sie völlig imstande wäre, Vergeltung zu üben. Der Heilige Qur'an sagt: "Halte dich an die Vergebung und gebiete, was gut ist, und wende dich ab von den Unwissenden. " (Sure 7, Vers 199) Der Prophet (s.a.s.) sagte: "Vergebung erhöht den Rang eines Menschen: darum vergebt, so daß Allah euch ehrt."

8.  Gewalttätigkeit

Gewalttätigkeit besteht im Gebrauch wütender und destruktiver Kraft entweder in Worten oder im Handeln und ist eine der Folgen des Zorns. Ihr Gegenstück ist Sanftheit, die ein Produkt der Geduld ist. An den Propheten (s.a.s.) gerichtet sagt der heilige Qur'an zu diesem Charakterzug: "...denn wenn du streng und hartherzig gewesen wärest, dann wären sie vor dir auseinandergelaufen" (Sure 3, Vers 159) Und in einer Überlieferung, die auf den Propheten (s.a.s.) zurückgeht, heißt es: "Wenn Allah einen Seiner Diener liebt, segnet Er ihn mit dem Charakterzug der Freundlichkeit, und wem dieser Zug fehlt, dem fehlen alle anderen Segnungen." Anderswo heißt es in einer prophetischen Überlieferung: "Rücksichtnahme und Freundlichkeit den Menschen gegenüber sind die Hälfte des Glaubens."

9.  Übellaunigkeit

Auch dieses Laster wird durch den Zorn verursacht, und sein Gegenstück ist Fröhlichkeit. Dieses Laster veranlaßt die Menschen, jemanden zu meiden, der

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es hat, und bringt ihm in dieser Welt und der nächsten Verderben. Es zerstört auch alle seine guten Handlungen. Vom Propheten (s.a.s.) wird berichtet, daß er sagte: "Übellaunigkeit vernichtet gute Handlungen, so wie Essig Honig vernichtet." An den Propheten (s.a.s.) gerichtet sagt der Qur'an: "Du hast wahrlich edlen Charakter." (Sure 68, Vers 4)

10. Haß

Auch Haß entsteht aus Zorn und ist ein Komplex, der sich bildet, wenn Zorn unterdrückt wird. Er hat üble Folgen wie Eifersucht und Abbruch der Verbindung mit dem, gegen den er sich richtet, und kann zu physischen Angriffen, illegitimen Äußerungen gegen den Betreffenden, Verbreitung von Lügen, übler Nachrede, Verleumdung, Bloßstellung seiner Geheimnisse usw. führen. Manchmal gelangt Haß ans Tageslicht und manifestiert sich als offene Feindseligkeit, die zu Konfrontationen, Kämpfen, Flüchen und Beschimpfungen führt - die alle tödliche Laster sind.

Die Methode, diese spirituelle Krankheit zu heilen, besteht darin, daß das betroffene Individuum zunächst verstehen muß, daß das Haßgefühl demjenigen, der es in seinem Herzen trägt, mehr schadet als der Person, gegen die es sich richtet. Zweitens muß es sich vornehmen, gegenüber der Person, gegen die es Haßgefühle verspürt, eine freundliche und hilfsbereite Haltung einzunehmen, ihr Gutes zu tun, selbst wenn seine Emotionen es in die entgegengesetzte Richtung ziehen, und die Haltung der Zuneigung ihr gegenüber fortzusetzen, bis es von seiner Krankheit befreit ist.

11.  Selbstüberschätzung und Eitelkeit

Dies ist ein weiteres Laster der Zorneskraft - ein Zustand, in dem ein Mensch aufgrund irgendeines Vorzuges, sei er real oder eingebildet, sich selbst hoch einschätzt. Andererseits versäumt er, die Attribute der Vollkommenheit in Gott, der der Ursprung aller Dinge ist, anzuerkennen. Eine große Anzahl von Überlieferungen weisen auf das Übel dieses Charakterzuges hin; der Prophet (s.a.s.) sagte beispielsweise: "Selbst wenn ihr keine Sünden begeht, fürchte ich, daß ihr in etwas verfallt, das schlimmer ist: Selbstüberschätzung! Selbstüberschätzung! "

Die üblen Auswirkungen von Selbstüberschätzung und Eitelkeit sind: Arroganz, Vergeßlichkeit, Vernachlässigung der eigenen Fehler und damit das Versäumnis, sie zu verbessern; Wertverlust der eigenen Handlungen in den Augen Gottes und der Menschen; fehlende Dankbarkeit für Gottes Segen und somit das Risiko, ihn zu verlieren; Versäumnis, Fragen über die Dinge zu stellen, die man nicht kennt, und somit Verharren in der Unwissenheit; und schließlich die Äußerung inkorrekter und unbegründeter Meinungen. Um ein

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Individuum von dieser Krankheit zu heilen, ist es notwendig, daß es seine Aufmerksamkeit Gott zuwendet und Ihn erkennt. Wenn es feststellt, daß nur der allmächtige Gott Anbetung und Lob verdient, und daß es, verglichen mit Gottes Majestät nichts ist, und daß es absolut nichts gibt, das es sein eigen nennen könnte, und daß selbst Wesen, die ihm weit überlegen sind wie die Propheten und Engel, verglichen mit Gott nichts sind, dann wird ihm die Tatsache bewußt, daß es absurd ist, sich selbst zu überschätzen und eitel zu sein, und daß es sich selbst als das betrachten muß, was es in Wirklichkeit ist: ein unbedeutendes Geschöpf Gottes.

Wenn der Mensch seinen bescheidenen Anfang als Tropfen betrachtet, sein sicheres Ende als eine Handvoll Staub, und seine kurze Lebensspanne als elendes Geschöpf, das für Krankheiten anfällig ist und von Begierden und Instinkten getrieben wird, dann wird er nicht nur seine Eitelkeit vergessen, sondern sein ganzes Selbst, und sein gesamtes Wesen der Verehrung Gottes widmen. Der Qur'an sagt dazu: "Möge der Mensch vergehen! Wie undankbar ist er! Woraus hat Er ihn erschaffen? Aus einem Tropfen. Er hat ihn geschaffen und im schönsten Ebenmaß gebildet und ihm den Weg leicht gemacht. Dann läßt Er ihn sterben und ins Grab gelangen; dann, wenn Er will, läßt Er ihn auferstehen." (Sure 80, Verse 17-22) Wir haben auch den folgenden Vers eines persischen Dichters: "Prahle nicht mit deinen Reichtümern, deiner Kraft und deiner Eleganz, Denn das eine davon kann des Nachts von Dieben gestohlen werden, und das andere verschwindet bei einem einzigen Fieberschub." Wir müssen bedenken, daß Eitelkeit und Selbstüberschätzung auch dann entstehen können, wenn man mit solchen göttlichen Segnungen beschenkt wurde wie Wissen, Ergebenheit, Frömmigkeit, Glaube, Mut, Großzügigkeit, Geduld, ehrenhaften Vorfahren, Schönheit, Reichtum, Kraft, einer einflußreichen Stellung, Intelligenz usw. Um dies zu vermeiden, muß man sich immer an seine Schwächen und Mängel erinnern; eine solche Erinnerung hilft, Selbstüberschätzung abzuwenden.

Das Gegenstück zu Selbstüberschätzung und Eitelkeit ist Bescheidenheit, und diese ist ein höchst wertvoller Charakterzug, die zu einer Veredlung der Seele und Vervollkommnung des Menschen führt.

12. Arroganz

Arroganz ist eine der Folgen von Eitelkeit und Selbstüberschätzung. Wenn ein Individuum sich selbst zu hoch einschätzt, ist dies Selbstüberschätzung; und wenn es darüber hinaus dazu neigt, andere geringer einzuschätzen, als sich selbst, ist dies Arroganz. Im Gegensatz dazu stehen die Zustände, in denen man sich selbst als gering und unbedeutend betrachtet - das bezeichnet

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man als Bescheidenheit; und wenn man zusätzlich dazu andere höher einschätzt als sich selbst, nennt man das Demut.

Jedenfalls ist Arroganz eines der tödlichsten moralischen Laster. Dies ist deshalb der Fall, weil Arroganz ein dicker Schleier ist, der die eigenen Mängel vor den eigenen Blicken verbirgt und somit verhindert, daß man sie behebt und Vollkommenheit erlangt. Der Heilige Qur'an sagt dazu: "So versiegelt Allah jedes stolze, arrogante Herz." (Sure 40, Vers 35)

"Ich werde diejenigen, die sich selbst zu hoch einschätzen, von Meinen Zeichen abwenden." (Sure 7, Vers 146) Und der Prophet (s.a.s.) sagte: "Jemand, der auch nur ein Teilchen Arroganz im Herzen hat, gelangt nicht ins Paradies. "

Jesus (a.s.) sagte: "So wie eine Pflanze in weichem Boden wächst und nicht da, wo er steinig und hart ist, so sprießt und wächst Weisheit in einem Herzen, das demütig und weich ist, nicht in den harten Herzen der Arroganten. Seht ihr nicht, daß jemand, der seinen Kopf hoch trägt, damit an die Decke stößt, während jemand, der seinen Kopf gesenkt hält, das Dach als Freund und Schutz hat?"

Das Heilmittel für Arroganz ist dasselbe wie das, was für das Laster der Selbstüberschätzung verschrieben wurde. Ein anderes Heilmittel besteht darin, die verschiedenen Qur'anverse und Überlieferungen zu lesen, die von diesem Laster handeln und es verurteilen. Man soll auch beständig Demut gegenüber Gott und den Menschen üben, sich in der Gesellschaft von Armen und Schwachen aufhalten, auf prächtige Kleidung verzichten, mit Armen und Reichen gleichermaßen gut umgehen, jeden unabhängig von seinem Alter grüßen und bei Zusammenkünften darauf verzichten, einen hohen Ehrenplatz zu suchen. Kurz, er muß all diesen eigennützigen Wünschen, die dazu beitragen, daß er arrogant wird, Widerstand leisten.

Das Gegenteil von Arroganz ist Demut, und sie ist eine der lobenswertesten moralischen Tugenden. Der Heilige Qur'an macht über die Tugend der Demut folgende Aussage: "Die (treuen) Diener des Allerbarmers sind diejenigen, die in Demut auf Erden wandeln, und wenn die Unwissenden sie ansprechen, sagen sie: 'Frieden'!" (Sure 25, Vers 63) "Und senke deine Schwingen in Freundlichkeit auf die wenigen Gläubigen, die dir folgen." (Sure 26, Vers 215)

Es ist zu beachten, daß Demut der Mittelweg zwischen Arroganz und Unterwürfigkeit ist, und so wie ersteres ein Laster ist, so ist es auch das letztere. Der Unterschied zwischen Demut und Unterwürfigkeit ist auch klar. Während es nämlich lobenswert für einen Menschen ist, demütig zu sein, ist es ein Laster, sich selbst zu erniedrigen.

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13.  Widerspenstigkeit

Als eine Form der Arroganz ist auch sie ein tödliches Laster. Sie wird definiert als Auflehnung gegen all jene, denen zu gehorchen notwendig ist, wie Propheten und ihren Stellvertretern, gerechten Regierungen, Lehrern, Eltern usw. In einer prophetischen Überlieferung lesen wir: "Das Böse, das am schnellsten bestraft wird, ist die Widerspenstigkeit." Der Prophet (s.a.s.) hat auch gesagt: "Es ist Allahs Recht, alles zu demütigen, das gegen etwas anderes rebelliert."

Imam 7Ali (a.s.) sagte: "Rebellion treibt den Rebellischen zum Feuer." Die Methode der Heilung dieses Lasters der Widerspenstigkeit besteht darin, daß der Betroffene über seinen spirituellen Zustand nachdenkt und auf Überlieferungen Bezug nimmt, in denen rechtmäßiger Gehorsam nahegelegt wird, und daß er sich gleichzeitig bemüht, den Geist der Demut in sich selbst zu fördern.

14. Blindheit den eigenen Fehlern gegenüber

Dies ist ein weiteres Ergebnis von Eitelkeit und Selbstüberschätzung. Sein Gegenteil ist das Bewußtsein von den eigenen Fehlern und Mängeln.

15. Fanatismus

Fanatismus ist ein weiteres moralisches Laster, das zu einer Zersetzung des Geistes und Verständnisses der betroffenen Person führt. Es können Vorurteile bezüglich der Glaubensüberzeugung, der Nation, des Stammes, der Familie oder ähnlicher Dinge vorliegen, die sich vielleicht in Worten und Handlungen äußern. Wenn sich der Fanatismus auf angemessene Dinge bezieht, bezeichnet man ihn als Enthusiasmus und Eifer, und er ist äußerst lobenswert. Bezieht er sich hingegen auf unangemessene Dinge, ist er ein Laster. Es gibt eine prophetische Überlieferung, die besagt: "Wer das geringste bißchen Fanatismus in seinem Herzen hat, der wird von Allah am Tag der Auferstehung zusammen mit den heidnischen Arabern aus vorislamischer Zeit auferweckt." Die Heilmethode für das Laster des Fanatismus besteht darin, daß der Betroffene in sich geht und die Tatsache erkennt, daß Fanatismus die eigene Entwicklung blockiert und das Verständnis der Realität trübt. Wenn er also die Wahrheit zu erkennen sucht, muß er blinden Fanatismus und Vorurteile ablegen und die Dinge objektiv und leidenschaftslos untersuchen.

16.  Verhehlen der Wahrheit

Das Laster des Verhehlens oder der Verdrehung der Wahrheit wird durch Fanatismus, Feigheit oder Angst verursacht. Es kann auch durch den Wunsch nach Reichtum und ähnliche Motive verursacht werden. Jedenfalls lenkt die-

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ses Laster vom Rechten Weg ab und führt zu moralischem Verfall. Das Gegenteil ist Bekanntgeben der Wahrheit und Standhaftigkeit auf dem Weg der Wahrheit. Es gibt zahlreiche Überlieferungen und Qur'anverse, die das Verhehlen der Wahrheit verurteilen und die Wahrhaftigen loben. Einige der Verse mit einer sehr klaren und direkten Aussage in dieser Angelegenheit sind folgende: "Und wer ist ungerechter als der, der ein Zeugnis verhehlt, das er von Allah hat?" (Sure 2, Vers 140)

"Warum verkleidet ihr die Wahrheit mit Falschem und verhehlt die Wahrheit wissentlich?" (Sure 3, Vers 71)

"Diejenigen, die die deutlichen Zeichen und die Rechtleitung verhehlen, die Wir hinabgesandt haben, nachdem Wir sie für die Menschheit im Buch deutlich gemacht haben - verflucht werden sie von Allah und denen, die verfluchen. " (Sure 2, Vers 159)

Um sich von dieser Krankheit zu heilen, sollte man sich die Tatsache bewußt machen, daß dieser Charakterzug Gottes Zorn erregt und zu Kufr (Unglauben) führen kann. Darüber hinaus sollte man darüber nachdenken, wieviel Nutzen es bringt, die Wahrheit kundzutun, und sich dann zwingen, dementsprechend zu handeln.

17. Herzlosigkeit und Grausamkeit

Wenn ein Individuum vom Laster der Herzlosigkeit und Grausamkeit betroffen ist, dann fühlt es sich durch die Schmerzen und Leiden seiner Mitmenschen weder betroffen noch traurig. Sein Gegenteil ist die Tugend der Barmherzigkeit und des Mitleides. Es gibt eine Anzahl von Qur'anversen, die dieses Laster tadeln und Mitleid und Liebe loben. Die Behandlung und Heilung dieser Krankheit ist äußerst schwierig, denn Grausamkeit und Herzlosigkeit sinken in den Charakter ein und werden chronisch und schwierig zu behandeln. Die beste Behandlungsweise für diese Krankheit ist die, daß die betroffene Person zunächst grausame Handlungen vermeidet, die eine äußerliche Manifestation dieses Lasters sind. Danach soll sie sich bemühen, an den Leiden und Schwierigkeiten teilzuhaben, denen andere gegenüberstehen, und ihre Probleme als ihre eigenen zu betrachten. Darüber hinaus sollte sie sich bemühen, in angemessener Weise auf solche Situationen zu reagieren, bis sie allmählich anfängt, den Geschmack des Mitleides zu spüren und es langsam in sich selbst Wurzeln schlagen läßt.

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Laster der Leidenschaft

Diese Krankheiten sind von zehn Arten, und wir wollen jede von ihnen kurz erörtern.

1. Liebe zur Welt

Die beste Definition dieses Lasters und der dabei verurteilten "Welt" finden wir im folgenden Qur'anvers: "Verschönt ist den Menschen die Liebe zu den Begehren, Frauen und Kindern und aufgespeicherten Haufen von Gold und Silber und wohlgezüchteten Pferden und Viehherden und Ackerfrucht. Das ist die Versorgung für das Leben in dieser Welt; doch Allah ist es, bei dem die schönste Heimstatt ist." (Sure 3, Vers 14)

Wir müssen bedenken, daß alle die Dinge, die in diesem Qur'anvers erwähnt wurden, göttliche Segnungen sind und nicht verurteilt werden dürfen. Darüber hinaus ist auch die angemessene Nutzung göttlicher Segnungen keine unwürdige Sache. Unerwünscht ist es jedoch, sich an diese Dinge zu binden und ihnen einen grundlegenden Platz im Leben zuzugestehen - eine Betonung, die möglicherweise noch über die hinausgeht, die Gott gegeben wird. Aber wenn diese Dinge nicht Gottes Stelle einnehmen und als Mittel genutzt werden, sich selbst weiterzuentwickeln und Gottes Nähe zu erlangen, dann ist das nicht nur nicht abzulehnen, sondern höchst wünschenswert. Deswegen bezieht sich der Tadel und das Lob der Welt, wie wir es im Qur'an oder in den Überlieferungen finden, auf die Art und Weise, wie die Welt und ihre Dinge genutzt werden. Wenn jemand die Welt zu seinem Götzen macht und sich so weit in irdische Hoffnungen verstrickt, daß er Gott und das zukünftige Leben vergißt oder - um einen qur'anischen Ausdruck3 zu gebrauchen - das zukünftige Leben für diese Welt verkauft, dann können wir sagen, daß ein solcher Mensch der Krankheit "Liebe zur Welt" zum Opfer gefallen ist. Ein prophetisches hadit umschreibt die Züge der Liebhaber der Welt mit folgenden Worten: "Wer aufwacht, während seine ganze Aufmerksamkeit auf diese Welt gerichtet ist, der wird von Gott getrennt, und Gott macht vier Eigenschaften zu seinen Begleitern: endlose Sorge, niemals endende Beschäftigung, eine nicht zu stillende Bedürftigkeit und unerfüllte Hoffnung." Um diese Krankheit zu heilen, muß man zunächst über die Tatsache nachdenken, daß die guten Dinge dieser Welt vergänglich sind, und daß das, was für den Menschen bleibt, spirituelle Errungenschaften, Nähe zu Gott und die Bemühungen bei der Vorbereitung auf das zukünftige Leben sind.

3 Vgl. Sure 2, Vers 86.

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2. Liebe zu Besitz und Reichtum

Dieses Laster ist ein Zweig der Krankheit "Liebe zur Welt", und all das, was zum Lob oder Tadel der Welt gesagt wurde, könnte auch über Reichtum gesagt werden. Einige Qur'anverse und Überlieferungen haben Besitz und Reichtümer lobend erwähnt, während andere sie verurteilen. Es besteht jedoch dazwischen kein Widerspruch; denn jene Verse und Überlieferungen, die sie verurteilen, sollen Besitztümer verurteilen, die den Menschen von Gott und dem zukünftigen Leben entfremden, wohingegen jene, die Besitz und Reichtum lobend erwähnen, sich auf Besitztümer beziehen, die dazu dienen, den menschlichen Charakter zu veredeln und den Menschen Gott näherzubringen. In einem Qur'anvers lesen wir: "O ihr, die ihr glaubt, laßt weder euer Eigentum noch eure Kinder euch vom Gedenken Allahs abbringen. Diejenigen, die dies tun, sind die Verlierer." (Sure 63, Vers 9) Und in einem anderen Vers wird ein ganzes Volk aufgefordert, Gott um Vergebung zu bitten, und die folgenden Gaben werden verheißen: "Und Er wird euch mit Eigentum und Kindern helfen und Gärten und Ströme für euch bereithalten. " (Sure 71, Vers 12)

Nach den Berichten erfahren wir, daß der Prophet (s.a.s.) Reichtum sowohl gelobt als auch getadelt hat. "Die Liebe zu Reichtum und gesellschaftlicher Stellung nährt die Heuchelei (nifaq), so wie Pflanzen von Wasser genährt werden. " Und: "Wie gut ist doch rechtmäßig erworbenes Eigentum in Besitz eines aufrichtigen Menschen!" Jedenfalls ist die passende und richtige Art des Eigentums solches, das auf legitime Weise erworben wurde und für Gottes Wohlgefallen aufgewendet wird - wie etwa für haJJ, Jihad, Hilfe für Bedürftige und alle anderen Arten der Spende für das öffentliche Wohl. Das Gegenteil der Hochschätzung der Welt ist zuhd, das ist Enthaltsamkeit von weltlichen Angelegenheiten, und zwar sowohl innerlich als auch äußerlich, abgesehen von Dingen, die notwendig sind, um die Güter des zukünftigen Lebens zu erwerben und Gottes Nähe zu erlangen. Der "zahid" wird in Qur'anversen und hadit sehr gelobt; zuhd wird als eine der Eigenschaften von Propheten Gottes und heiligen Menschen betrachtet. Zuhd hat verschiedenen Grade, und zwar folgende:

1. Enthaltsamkeit von Sünden.

2.  Enthaltsamkeit von Dingen, die "muptabah" sind, d.h. Dinge, die nicht mit Sicherheit als verboten bekannt, jedoch zweifelhaft sind.

3. Enthaltsamkeit von allem, was mehr ist als das Notwendige.

4. Enthaltsamkeit vom Befolgen eigennütziger Wünsche.

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5. Enthaltsamkeit von allem außer Gott, d.h. seine Aufmerksamkeit auf den Schöpfer beschränken, mit dem Minimum zur Erfüllung physischer Bedürfnisse zufrieden sein und den Rest für Gottes Sache weggeben. Menschen praktizieren zuhd aus verschiedenen Gründen:

1.  Um dem Höllenfeuer zu entgehen. Diese Art von Enthaltsamkeit wird "zuhd al-va'ifin", die Enthaltsamkeit der Furchtvollen, genannt.

2.  Um Gottes Wohlgefallen zu gewinnen und die Freuden des Paradieses zu erlangen. Diese Art von Enthaltsamkeit wird "zuhd ar-raJi'in", Enthaltsamkeit der Hoffnungsvollen, genannt.

3.  Um Verbindung mit Gott zu erlangen. Dies ist das höchste Ziel und die würdigste Form von Zuhd, die weder aus Furcht vor der Hölle noch aus Hoffnung auf die Freuden des Paradieses praktiziert wird.

3.  Überfluß und Oppulenz

Dies bedeutet, im Besitz der lebensnotwendigen Dinge zu sein, und hat viele Abstufungen, die gelegentlich zu großem Wohlstand und einem Horten von Reichtümern führen. Das Gegenteil ist Armut und Bedürftigkeit, und das bedeutet Mangel am Lebensnotwendigen. Sowohl Überfluß als auch Armut können den Charakter eines Menschen entweder veredeln oder ruinieren. Wenn Überfluß mit legitimen Mitteln erworben und überschüssiger Reichtum für Gottes Sache und im Dienst Seiner Geschöpfe aufgewendet wird, wird er als eine der Tugenden betrachtet. Wenn er jedoch mit illegitimen Mitteln erworben wird, durch Unrecht und Ausbeutung, und der Reiche die Bedürfnisse der weniger Privilegierten und Armen gleichgültig übergeht, dann führt dies zu seinem sicheren Untergang. "Nein, sicherlich ist der Mensch widerspenstig, weil er sich unabhängig wähnt." (Sure 9, Verse 6 und 7) Gleicherweise führt auch Armut, wenn sie von Geduld, Ergebenheit und Zufriedenheit begleitet ist, den Menschen zu spiritueller Veredlung; ansonsten führt auch sie zum Untergang. Wenn wir also sehen, daß in Qur'anversen und Überlieferungen manchmal Armut und Überfluß beifällig erwähnt und an anderen Stellen getadelt werden, dann ist dies deswegen, weil diese Zustände, wenn sie von passenden Bedingungen begleitet sind, wünschenswert, andernfalls jedoch abzulehnen und tadelnswert sind.

4.  Gier

Gier (hirs) ist ein Zustand, der den Menschen mit allem, was er besitzt, unzufrieden macht und nach mehr verlangen läßt. Gier ist eines der destruktivsten Laster und nicht auf weltlichen Besitz beschränkt, sondern sie schließt auch Zügellosigkeit z.B. beim Essen und anderen Dingen ein. Der Prophet (s.a.s.)

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sagte: "Während der Mensch älter wird, bleiben zwei seiner Eigenschaften jung: Gier und weit hergeholte Hoffnungen."

Imam Abu ja7far al-Baqir (a.s.) sagte: "Der Gierige in seiner Liebe zur Welt ist wie eine Seidenraupe: je mehr sie sich in ihren Kokon hüllt, um so weniger Möglichkeiten hat sie, daraus zu entkommen, bis sie schließlich an Gram zugrundegeht. "

Das Gegenteil von Gier ist die Tugend der Zufriedenheit, die dem Menschen ermöglicht, seine Wünsche zu kontrollieren, und mit dem Lebensnotwendigen zufrieden zu sein. Wer diese Tugend besitzt, lebt immer ehrenhaft und respektabel als freier Mensch; er ist immun gegen die Laster des Überflusses in dieser Welt und die darauffolgende Strafe im zukünftigen Leben. Um sich von der Last der Gier zu befreien, muß man über seine üblen und schädlichen Folgen nachdenken und erkennen, daß Gier eine Eigenschaft der Tiere ist, die keine Einschränkungen bei der Erfüllung ihrer sinnlichen Wünsche anerkennen und alle Mittel daransetzen, dies zu erlangen. Auf diese Weise ist es für das Individuum notwendig, sich von diesem Laster zu befreien und sein rebellisches Selbst unter Kontrolle zu bringen.

5. Habsucht

Von der Liebe zur Welt verursacht, ist Habsucht (xama7) eine weitere Art des moralischen Lasters und besteht darin, daß man sein Auge auf die Besitztümer anderer wirft. Das Gegenteil dieses Lasters besteht darin, von anderen unabhängig zu sein und das, was sie besitzen, gleichgültig zu betrachten. Es gibt zahlreiche Überlieferungen, die sich lobend über die Unabhängigkeit von anderen aussprechen und Habsucht verurteilen. Hier zitieren wir zwei Überlieferungen, die Selbstgenügsamkeit loben und Habgier tadeln. Imam Baqir (a.s.) sagte: "Was für ein schlechtes Geschöpf ist derjenige, der sich von seiner Habgier leiten läßt! Und was für ein schlechtes Geschöpf ist derjenige, dessen Begehren ihm Schande einbringt." Imam 7Ali (a.s.) sagte: "Von wem du unabhängig sein kannst, dem kannst du ebenbürtig sein. Wen du liebst, dessen Gefangener wirst du. Wem du großmütig gegenüber treten kannst, dessen Meister kannst du sein."

6.  Geiz

Geiz (buvl) ist dadurch definiert, daß man übertrieben sparsam ist, wo man großzügig sein sollte, so wie Verschwendung, das Gegenteil davon, dadurch definiert ist, daß man übertrieben freigebig ist, wo man Genügsamkeit praktizieren sollte. Der Mittelweg zwischen diesen beiden Extremen ist sava', nämlich Großzügigkeit, wo Großzügigkeit am Platz ist. Der Qur'an beschreibt die

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Eigenschaften der Gläubigen, die auch " 7ibadu-r-Rahman" oder "Diener des Gnadenreichen" genannt werden, indem er sagt: "...die, wenn sie spenden, weder verschwenderisch noch geizig sind, sondern den geraden Mittelweg dazwischen suchen." (Sure 25, Vers 67)

Während Geiz (buvl) durch Liebe zu dieser Welt verursacht wird, ist Großzügigkeit (sava') eine Folge von zuhd. Es gibt zahlreiche Verse und Überlieferungen, die diese Eigenschaften loben bzw. tadeln, die wir hier um der Kürze willen auslassen müssen. Die höchste Stufe der Großzügigkeit ist das Opfer, d.h. die Bereitschaft, anderen das zu geben, was man selbst braucht. In seiner Beschreibung der Gläubigen sagt der Qur'an: "...und sie ziehen andere sich selbst vor, obwohl Armut ihr Los ist..." (Sure 59, Vers 9) Um sich selbst von der Krankheit des Geizes zu heilen, ist es notwendig, die Qur'anverse und Überlieferungen zu beachten, in denen dieses Laster verurteilt wird, und über seine bösen Folgen nachzudenken. Wenn sich dies als wirkungsvoll erweist, muß man sich selbst dazu zwingen, großzügig und freigebig zu sein, selbst wenn eine solche Großzügigkeit völlig künstlich ist, und dies ist fortzusetzen, bis Großzügigkeit zur zweiten Natur geworden ist. Großzügigkeit ist da notwendig, wo notwendige Pflichten zu erfüllen sind wie die Zahlung von vums und zakat, die Versorgung von Frau und Kindern, Ausgaben für die haJJ usw. Sie ist auch notwendig, wo empfohlene Verpflichtungen (mustahabbat) auszuführen sind, wie den Armen zu helfen, Geschenke zu geben, Zusammentreffen zu veranstalten, um die Bindungen unter Freunden und Verwandten zu stärken, Darlehen zu gewähren, Schuldnern in Schwierigkeiten mehr Zeit einzuräumen, das auszugeben, was notwendig ist, die Ehre zu bewahren oder Unrecht abzuwenden, und zu den Ausgaben für öffentliche Einrichtungen wie Moscheen, Brücken usw. beizutragen.

7. Illegitime Einkünfte

Dieses Laster besteht darin, daß man auf illegitime Weise Eigentum ansammelt, ohne sich darum zu kümmern, Einkünfte zu vermeiden, die haram oder verboten sind. Dieses Laster wird durch Gier und die Liebe zur Welt verursacht und bewirkt moralische Entartung und den Verlust der menschlichen Würde. Zahlreiche Verse des heiligen Qur'an und viele Überlieferungen warnen vor einer Annäherung an verbotene Einkünfte und erinnern an die schwerwiegenden Folgen davon. Wir müssen beachten, daß Eigentum von dreierlei Art ist:

1. Das, was rein halal ist (auf legitime Weise erworben).

2. Das, was rein haram ist (auf illegitime Weise erworben).

3. Das, was aus haram- und halal-Einkünften gemischt ist.

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Was halal ist, ist brauchbar, und was entweder haram oder zweifelhaft (muptabah) ist, soll vermieden werden. Verbotene Dinge sind von vielerlei Art, wie Schweine- oder Hundefleisch, alkoholische Getränke, alle jene Dinge, die dem Körper Schaden zufügen, alles, was durch Gewaltanwendung, Unrecht oder Diebstahl erworben wurde, Einkünfte durch unerlaubte Praktiken wie Betrug bezüglich Gewicht oder Arbeitsstunden, Horten, Bestechung, Wucher und alle die anderen illegitimen Mittel, die ausführlich in den Büchern über islamische Rechtswissenschaft (fiqh) erwähnt werden. Das Gegenteil zum Erwerb durch erlaubte Mittel ist Enthaltsamkeit von allen Formen von verbotenen Praktiken (wara7 7an al-haram). Diese Tugend kann allmählich bei einem Individuum durch Selbstbeherrschung zur Gewohnheit werden, so daß es letztendlich in der Lage ist, sich selbst der Dinge zu enthalten, die muptahab (d.h. von zweifelhafter Legitimität) sind. Eine prophetische Überlieferung besagt: "Wer vierzig Tage lang von halal-Einkünften lebt, dessen Herz erleuchtet Gott, und Er läßt Quellen der Weisheit aus seinem Herzen entspringen und zu seiner Zunge fließen."

8.  Treulosigkeit

Treulosigkeit (viyanah) ist eine weitere Art von Laster, das der Leidenschaft zugeordnet ist. Treulosigkeit kann in Bezug auf Geld oder als Vertrauensbruch auftreten. Sie kann in Bezug auf Ehre, Macht oder gesellschaftliche Stellung auftreten. Das Gegenteil zu Treulosigkeit ist Vertrauenswürdigkeit (amanah), die sich ebenfalls auf alle Gegenstände erstreckt, die über die Treulosigkeit ausgesagt wurden: d.h. Eigentum und Besitz, die ein göttliches Vertrauenspfand sind; Familie, gesellschaftliche Stellung, Autorität und Macht, die man ausübt. Man soll sich immer dessen bewußt sein, daß alle die hier erwähnten Dinge Segnungen Gottes sind, die von einer gewissen Verantwortung begleitet sind, deren Verletzung auf Treulosigkeit hinausläuft. Der weise Luqman soll gesagt haben: "Ich habe meine Ebene der Weisheit nur durch Vertrauenswürdigkeit und Erfüllung der Vertrauenswürdigkeit erlangt. "

9. Ausschweifung und Liederlichkeit

Dies schließt solch lasterhaften Praktiken wie Ehebruch, Unzucht, Berauschung und alle anderen Formen der Extravaganz mit ein, die alle aus der Leidenschaft entstehen und den Menschen in eine viehische Lebensweise hineinziehen. Es gibt zahlreiche Qur'anverse, Überlieferungen und Erzählungen, die Verhaltensweisen dieser Art verurteilen, und deren Aufzählung unnötig ist, weil sie allgemein bekannt sind.

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10. Beschäftigung mit unanständigen und verbotenen Dingen

Dieses Laster besteht darin, über verbotene und unerlaubte Handlungen zu sprechen, solche Gespräche zu genießen, und unanständige Witze und Geschichten auszutauschen, die der Menschenwürde nicht angemessen sind. Da Verbotenes und Obszönes von vielerlei Art sein kann, kann die Beschäftigung damit auch verschieden klassifiziert werden. Um sich von diesem Laster zu befreien, muß man seine Rede kontrollieren und beschränken und nur von solchen Dingen sprechen, die Gott gefallen. Der heilige Qur'an spricht davon, daß die Hölleninsassen sagen: "Und wir ergingen uns in eitlem Geschwätz mit den Schwätzern." (Sure 74, Vers 45) In einem anderen Vers warnt er davor, zu solchen Zwecken Zusammenkünfte zu veranstalten: "...sitzt nicht bei denen, (die sich mit unanständigen, spöttischen Gesprächen befassen), bis sie von etwas anderem sprechen... " (Sure 4, Vers 140)

Eine der vielen Formen, die dieses Laster annehmen kann, ist die Beschäftigung mit nutzlosen und nichtigen Angelegenheiten - Diskussionen, die weder für diese Welt noch für die zukünftige einen Nutzen haben. Darüber hinaus ist eine solche Rede Zeitverschwendung und ein Hindernis für nützliches Überlegen und Denken. Darum wurde die Tugend des Schweigens diesem Laster gegenübergestellt. Mit "Schweigen" ist hier nicht gemeint, daß man permanent schweigsam sein soll, sondern daß man seine Zunge und seine Ohren vor nutzlosem und sinnlosem Gerede schützen soll. Mit anderen Worten, man sollte beim Sprechen Sorgfalt aufbringen und nur die Dinge sagen, die sowohl für unsere irdische Existenz als auch für unser zukünftiges Leben nützlich sind. Die Weisen haben gesagt: "Zwei Dinge können einen Menschen vernichten: zuviel Reichtum und Schwatzhaftigkeit." Der Prophet (s.a.s.) sagte: "Gesegnet ist derjenige, der schlicht in der Rede und großzügig mit seinem Eigentum ist."

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Krankheiten aus einer Kombination der Käfte des Verstandes, des Zorns und der Leidenschaft.

Der vierte Abschnitt des Buches handelt von Lastern, die sich auf eine Kombination von je zwei der Kräfte des Verstandes, des Zorns und der Leidenschaft oder aller drei beziehen, und von ihren Behandlungsmethoden. Es gibt einunddreißig solcher Laster. Diese Diskussion, die von einer großen Anzahl von Lastern und Tugenden handelt und zur Thematik der meisten Ethikbücher beiträgt, nimmt die Hälfte der Gesamtlänge des jami7 as-Sa7adat ein. Um uns in den für diese Zusammenfassung angemessenen Grenzen zu halten, werden wir uns auf eine kurze Erörterung der in diesem Teil des Buches angesprochenen Punkte beschränken.

1. Eifersucht

Eifersucht (hasad) besteht aus dem Wunsch, zu erleben, daß die Vorteile oder Segnungen eines anderen weggenommen werden. Wenn jemand lediglich anstrebt, dieselben Vorteile zu haben wie jemand anderes, dann wäre dies Beneiden (gibxah), und wenn jemand den Wunsch hat, jemanden weiterhin seinen Vorteil oder seine Segnungen genießen zu sehen, dann ist das Wohlwollen (nasihah). Unter allen diesen Umständen ist hasad ein Laster, für das der Mensch sowohl in dieser Welt als auch in der zukünftigen Bestrafung verdient. Der Neidische kennt keinen Frieden und brennt ständig im Feuer des Neides. Darüber hinaus zerstört der Neid alle seine guten Handlungen, wie in einer prophetischen Überlieferung erwähnt wird: "Der Neid verzehrt Tugenden, so wie Feuer Holz verzehrt." Sowohl gibtah als auch nasihah sind hingegen Tugenden, die gepflegt werden müssen, indem man die Seele von dem Laster des Neides reinigt.

Die tödliche Krankheit hasad kann entweder von der Leidenschaft oder der Zorneskraft ausgehen, oder von beiden, je nachdem, was sie motiviert. Um sie zu heilen, müssen wir also unsere Aufmerksamkeit auf diese beiden Kräfte konzentrieren, und was wir bereits über die verschiedenen mit diesen Kräften verbundenen Krankheiten gesagt haben, gilt auch für die Krankheit des Neides. Was dem Individuum am besten helfen kann, sich selbst von dieser Krankheit zu heilen, ist eine Betrachtung der negativen psychologischen und spirituellen Auswirkungen des Neides, die nur den Neider selbst betreffen,

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nicht denjenigen, der das Objekt des Neides ist. Darüber hinaus sollte der neidische Mensch versuchen, in sich selbst die Tugend von nasihah (Wunsch nach dem Wohlergehen des anderen) entstehen zu lassen, das Gegenteil des Neides. Anfangs mag es notwendig sein, sich selbst die für diese Tugend notwendige Haltung aufzuzwingen, ungeachtet seiner inneren gegenteiligen Neigung, bis der Neid überwunden und nasihah zu einem festverwurzelten Charakterzug geworden ist.

2. Beunruhigung und Beleidigung anderer

Diese Verhaltensweise wird gewöhnlich von Eifersucht und Feindseligkeit verursacht, obwohl sie ihre Ursache auch in Gier (hirs), Habsucht (xama7), Stolz (takabbur) usw. haben kann.

Auf diese Weise ist ihr Ursprung entweder die Zorneskraft oder die Leidenschaft oder beides. Jedenfalls ist die Beunruhigung und Beleidigung anderer Muslime eine große Sünde und wurde wiederholt sowohl in Qur'anversen als auch in Überlieferungen verurteilt:

"Und diejenigen, die gläubige Männer und Frauen belästigen, ohne daß sie dies verdient hätten, tragen die Schuld der Verleumdung und offenkundiger Sünde." (Sure 33, Vers 58) Und in einer auf den Propheten (s.a.s.) zurückgeführten Überlieferung lesen wir: "Wer einem Gläubigen wehtut, der tut mir weh; und wer mir wehtut, der tut Gott weh, und wer Gott wehtut, ist verflucht von der Thora, dem Evangelium, den Psalmen und dem Qur'an. " (jami7 al-avbar).

Andererseits ist es eine würdige Handlung, jemanden von der Beunruhigung und Beleidigung anderer abzubringen, die in vielen Überlieferungen gelobt wird, wie z.B. im folgenden hadit: "Wer eine Hürde vom Weg eines Muslims entfernt, für den schreibt Allah eine gute Handlung, deren Lohn das Paradies ist." (Ihya' 7ulum al-din, Band II, S. 172)

3. Ängstigen und Plagen von Muslimen

Diese Verhaltensweise ist ein Zweig des oben erwähnten Lasters und wird entweder durch Ärger oder durch Übellaunigkeit oder Habgier verursacht. Sein Gegenteil ist, andere glücklich zu machen und die Ursache ihrer Sorge oder Angst zu beseitigen. Zahlreiche Überlieferungen loben diese Tugend, so wie die folgende vom Propheten (s.a.s.): "Die Handlung, die Allah, der Erhabene, am meisten liebt, ist die, die Gläubigen glücklich zu machen. "

4.  Gleichgültigkeit gegenüber den Angelegenheiten der Muslime

Den Angelegenheiten der Muslime gegenüber gleichgültig zu sein ist ein moralisches Laster, das durch Lethargie, spirituelle Schwäche oder Geiz verur-

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sacht wird. Dieses Laster wird von zahlreichen Überlieferungen verurteilt, wovon folgende bekannte Aussage des Propheten (s.a.s.) ein Beispiel ist:

"Wer morgens aufwacht, ohne an den Angelegenheiten der Muslime interessiert zu sein, ist kein Muslim; und wer den Ruf: 'O ihr Muslime!' hört und nicht antwortet, der ist kein Muslim."

Im Gegenteil wird es als eine der edelsten Formen des Gottesdienstes angesehen, die Bedürfnisse der Muslime zu erfüllen und ihre Probleme zu lösen. Es wird berichtet, daß der Prophet (s.a.s.) sagte: "Wenn jemand des Nachts oder am Tage eine Stunde lang zu Fuß geht, um einem Bruder zu helfen, seine Bedürfnisse zu erfüllen, dann ist das besser als zwei Monate i'tikaf (spirituelle Zurückgezogenheit), gleichgültig, ob die Bemühung Erfolg hat oder nicht."

5.   Versäumnis, die Pflicht "Gutes gebieten und Schlechtes verwehren" zu erfüllen.

Die Versäumnis, die Pflicht "al-'amr bil ma7ruf wan-nahy 7an-il-munkar" (Gutes gebieten und Schlechtes verwehren) zu erfüllen, ist eine unverzeihliche Sünde, die entweder durch moralische Schwäche oder mangelnde Beachtung der religiösen Pflichten verursacht ist und zur Verbreitung von Unmoral, Verderben, Ungerechtigkeit und anderen Formen der Unanständigkeit in der Gesellschaft führt.

Anderen gebieten, ihre göttlichen Pflichten zu erfüllen, und ihnen verbieten, illegitime Handlungen zu begehen, ist eine grundlegende Pflicht für jeden Muslim und hat Stadien und Begleitumstände, die ausführlich in Büchern zum islamischen Recht erläutert werden. Da wir uns hier mit den Pflichten des Individuums in bezug auf seine Beziehung zu anderen befassen, genügt es, diese Pflicht nur kurz zu erwähnen.

6.  Ungeselliges Verhalten

Dieses Laster wird entweder durch Feindseligkeit, Rachsucht, Eifersucht oder Geiz verursacht und ist somit entweder der Leidenschaft oder der Zorneskraft zuzuordnen. Es wurde in zahlreichen Überlieferungen verurteilt. Das Gegenteil zu diesem Laster ist die Tugend der Geselligkeit, Gastfreundschaft und Freundlichkeit, die es ermöglicht, herzliche, brüderliche Beziehungen in der Gemeinschaft zu verbreiten. Diese Tugend wird im Islam sehr empfohlen.

7. Abbruch der Beziehungen zu Familie und Verwandten

Dieses Laster ist ein Zweig des ungeselligen Verhaltens, ist jedoch weit häßlicher und schädlicher. Das Gegenteil zu diesem Laster ist die Tugend, enge und herzliche Familienbindungen zu bewahren. Eine große Anzahl von Überlieferungen in den hadit-Büchern behandeln dieses Thema.

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8. Pflichtversäumnis den Eltern gegenüber

Dies ist die schlimmste Form, die das Laster des Abbruchs der Beziehungen zur Familie annehmen kann, und nach streng formulierten Überlieferungen ist es die Ursache für strenge Strafe sowohl in dieser Welt als auch in der zukünftigen. Demgegenüber wird freundliches und liebevolles Verhalten der Familie gegenüber als eine der höchsten Tugenden betrachtet. Es wird berichtet, daß Imam as-Sadiq (a.s.) einmal gefragt wurde: "Welche Handlung hat vor Gott den größten Wert?" Und er soll geantwortet haben: "Das Gebet gleich zu Anfang seiner festgesetzten Zeit, Freundlichkeit den Eltern gegenübe und Jihad für Allahs Sache." Diese Erwähnung der Freundlichkeit den Eltern gegenüber in einem Atemzug mit Gebet und Jihad, die zwei der wichtigsten Pfeiler des Islam sind, weist deutlich auf ihre Wichtigkeit hin. Hier ist es auch notwendig, an die Pflichten den Nachbarn gegenüber und die Rechte der Nachbarn zu erinnern, denn auch dies gehört in die Kategorie der zwischenmenschlichen Beziehungen, die oben kurz angesprochen wurde, und viele Überlieferungen verurteilen die Störung der Nachbarn und unangenehmes Verhalten ihnen gegenüber.

9. Andere kritisieren und ihre Mängel oder Sünden bloßstellen

Dieses Laster wird entweder durch Eifersucht oder durch Feindseligkeit verursacht und führt zur Verbreitung von Verderben, Feindschaft und der Zerstörung guter zwischenmenschlicher Beziehungen. Das Gegenteil zu diesem Laster ist die Tugend, die Mängel und Sünden anderer zu bedecken. Diese Tugend hat unermeßlichen Verdienst, und hier werden wir diesbezüglich einen Vers und eine Überlieferung erwähnen, obwohl es zu diesem Thema eine große Anzahl von Überlieferungen gibt:

"Diejenigen, die wünschen, daß sich Unsittlichkeit unter den Gläubigen verbreitet - ihnen wird schmerzliche Strafe in dieser Welt und in der zukünftigen..."(Sure 24, Vers 19)

Und der Prophet (s.a.s.) sagte: "Wer die Fehler eines Muslims bedeckt, dessen Fehler bedeckt Allah in dieser Welt und in der nächsten. "

10. Ausplaudern der Geheimnisse anderer

Das Ausplaudern der Geheimnisse anderer führt zu gesellschaftlichen Unstimmigkeiten und zeitweilig zu Feindschaft. Darum wird es als Laster betrachtet und in zahlreichen Überlieferungen verurteilt. Dieses Laster kann viele Formen annehmen, von denen eine darin besteht, jemandem abfällige Bemerkungen zuzutragen, die jemand anderes über ihn gemacht hat, und so Feindseligkeit zwischen den beiden zu schüren. Eine weitere Form besteht

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darin, einer Autoritätsperson etwas mitzuteilen, was jemand anderes gegen sie getan oder gesagt hat, und sie auf diese Weise zu veranlassen, dem Betreffenden Nachteiliges zuzufügen. Allgemein kann das Laster, Konflikte und Uneinigkeit zwischen den Menschen zu erregen und zwischen Einzelnen Feindschaften zu stiften, verschiedene Formen annehmen, und das Aufdecken der Geheimnisse anderer ist eine davon. Das Gegenteil zu diesem Laster ist die Tugend, sich für die Entstehung von guten Gefühlen, Harmonie und Liebe unter den Menschen einzusetzen, und das ist ein großer Wert. Im Gegensatz zu dem Laster, die Geheimnisse anderer auszuplaudern, steht die Tugend, ihre Geheimnisse zu bewahren und zu hüten.

Jedenfalls werden alle verschiedenen Formen von ifsad bayn al-nas (Unfriedenstiften unter den Menschen) als Sünden angesehen und in vielen Qur'anversen und Überlieferungen verurteilt.

11.  Schadenfreude

Dieses Laster besteht darin, daß man das Unglück, das jemanden befällt, dessen widerwärtigen Handlungen zuschreibt, Schadenfreude (pamatah) empfindet und ihn für sein Unglück tadelt. Dieses Laster wird gewöhnlich durch Eifersucht oder durch die Leidenschaft verursacht. Schadenfreude wurde in einer großen Anzahl von Überlieferungen verurteilt, und es wurde gesagt, daß sie erstens den Schuldigen demselben Unglück zum Opfer fallen läßt, über das er so schadenfroh war, als es andere befiel, und es zweitens die Gefühle seines Glaubensbruders verletzt und deshalb die Ursache göttlicher Strafe ist, und drittens bedeutet die Tatsache, daß jemand von einem Unglück betroffen wurde, nicht, daß er eine schlechte Handlung begangen hat: es kann eine göttliche Prüfung sein, die auch bei denen eintreffen kann, die Gott am nächsten stehen.

12.  Stichelei und Streiterei

Stichelei (xa7n) bedeutet, mit der Absicht, jemandem zu schaden, sarkastische Bemerkungen zu machen, und Streiterei (muJadalah) bezieht sich auf nutzlose Diskussionen, ohne wirklich die Wahrheit herausfinden zu wollen. Diese beiden Charakterzüge werden als moralische Laster betrachtet und führen zu Mißverständnissen und schlechten Gefühlen unter Freunden. Im Gegensatz zu diesen Lastern steht die Tugend der aufrichtigen Redeweise, die darauf abzielt, durch höfliche, aufrichtige und freundliche Diskussion die Wahrheit zu entdecken.

13. Andere verspotten und lächerlich machen

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Dieses Laster hat dieselben schädlichen Auswirkungen wie Stichelei und Streiterei.

14.  Schabernack

Schabernack soll auch im allgemeinen vermieden werden, denn er kann schlechte Gefühle und Feindschaft unter einigen Menschen erregen. Wir müssen uns jedoch dessen bewußt sein, daß Schabernack in seiner extremen Form schlimm ist; ansonsten ist die Art Humor, die das Herz erfreut und das Gemüt erfrischt, ohne zu Lüge und Verleumdung zu greifen und ohne andere in Verlegenheit zu bringen, durchaus zulässig.

15.  Verleumdung

Verleumdung (gibah) besteht darin, daß man etwas über ein Individuum aussagt, das diesem nicht gefallen würde. Verleumdung ist eine der großen Sünden, über die viel geschrieben wurde, und die in vielen Überlieferungen und Qur'anversen verurteilt wurde. Eine ausführliche Erörterung ihrer Grenzen, Eigenschaften und Ausnahmen ist im Buch enthalten. Um jedoch innerhalb des Rahmens dieser kurzen Zusammenfassung bleiben zu können, verzichten wir auf diese ausführliche Erörterung.

16. Lügen

Lügen ist ein schändliches Laster und eine große Sünde, die zu persönlichem und gesellschaftlichem Verderben führt. Eine große Anzahl von Überlieferungen und Qur'anversen befaßt sich mit dem Übel des Lügens, und viele Werke sind verfaßt worden, um es zu verurteilen. Das Gegenteil zu diesem Laster ist die Tugend der Wahrhaftigkeit (sidq). Wahrhaftigkeit ist eine der lobenswertesten Eigenschaften eines Menschen, und sidq ist ein Wort, das sehr oft im Qur'an vorkommt.

17.  Vortäuschen

Vortäuschen (riya') bedeutet, eine gute Handlung des Anscheins wegen zu tun statt Gottes wegen. Es ist eine große Sünde und verursacht spirituellen Verfall und Tod. Und der Qur'an sagt dazu: "Wehe denen, die beten, aber ihres Gebetes uneingedenk sind, die nur gesehen werden wollen, und die kleinen Dienste verweigern." (Sure 107, Verse 4-7) In einem anderen Vers lesen wir: "Sie zeigen sich den Leuten, und sie gedenken Allahs nur wenig." (Sure 4, Vers 142)

Hier gibt es auch eine prophetische Überlieferung zum Thema riya': "'Was ich für euch am meisten fürchte, ist der kleinere Götzendienst.'" Die Zuhörer fragten: 'Was ist der kleinere Götzendienst?' Er (s.a.s.) antwortete:

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'Vortäuschen. Am Tag des Gerichts, wenn Allah, der Allmächtige, die vergangenen Handlungen Seiner Geschöpfe prüft, dann spricht Er zu denen, die vorgetäuscht haben: 'Geht zu denen, denen ihr euch während eures Lebens gezeigt habt, und bittet sie um euren Lohn.'"

Es gibt verschiedene Arten von riya: riya' im Gottesdienst, welche Form es auch immer annehmen mag, ist immer tadelnswert; riya' in anderen Angelegenheiten ist manchmal abzulehnen, kann aber manchmal auch erlaubt (mubah) oder sogar wünschenswert sein. Wenn jemand z.B. offen großzügig ist mit der Absicht, andere zu ermutigen, selbst auch großzügig zu sein, dann ist seine Handlung nicht nur tadellos, sondern sogar sehr empfehlenswert. Die Bedeutung der Vortäuschung hängt in jedem Fall von der Absicht des betreffenden Individuums ab.

Das Gegenteil zu riya' ist ivlas (Aufrichtigkeit), das bedeutet, alles nur um Gottes willen zu tun, ohne einen Lohn von anderen zu erwarten. Die Ebene von ivlas ist eine der höchsten, die ein Gläubiger erlangen kann, aber sie kann durch beständige Übung und Ausdauer erreicht werden.

18. Heuchelei

Heuchelei (nifaq), d.h. in der Religion oder in gesellschaftlichen Beziehungen vorzugeben, zu sein, was man nicht ist, oder zu glauben, was man nicht glaubt, ist eins der destruktivsten Laster. Im ganzen Heiligen Qur'an wurden Heuchler mit den strengsten Worten verurteilt. Auch gibt es viele Überlieferungen, die dieses Laster verursachen. Das Gegenteil zu Heuchelei besteht darin, in der äußeren Erscheinung dasselbe zu sein wie im inneren Selbst, oder noch besser, innerlich besser zu sein als man nach außen hin erscheint. Dieser letztere Zug ist charakteristisch für die mu'minun (Gläubigen) und diejenigen, die Gott nahestehen (awliya' Allah).

19.  Stolz

Stolz (gurur) besteht aus Verblendung, die auf Wunschdenken und Phantasien begründet sind und kann sich sowohl auf Angelegenheiten dieser Welt als auch der zukünftigen beziehen. Man kann stolz auf seine gottesdienstlichen Handlungen sein, oder auf seine Kinder, seinen Reichtum, seine Stellung und Macht oder auf etwas anderes. All dies kann zu Stolz führen und folglich zum spirituellen und moralischen Fall des Menschen. Auf diese Weise sehen wir, daß der Heilige Qur'an den Menschen vor Stolz in jeder Form warnt, der eine Art Illusion und Selbstbetrug ist. "...Laßt nicht das Leben in dieser Welt euch täuschen, und laßt nicht zu, daß der Betrüger (Satan) euch in bezug auf Gott täuscht." (Sure 31, Vers 33)

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Menschen aus allen Lebensstellungen können dem Laster des Stolzes zum Opfer fallen. Sie können gläubig oder ungläubig sein, Gelehrte, Fromme, Mystiker usw., und jeder von ihnen mag auf eine bestimmte Sache stolz sein. So sehen wir, daß Stolz verschiedene Formen annehmen kann. Stolz kann durch die Verstandeskraft, die Leidenschaft, die Zorneskraft oder durch alle drei zusammen verursacht werden. Das Gegenteil zu Stolz - der als eine Art Selbstbetrug bezeichnet wurde - ist Wissen, Weisheit, Achtsamkeit und Zuhd; je mehr sich ein Mensch der Realität bewußt ist, um so weniger neigt er dazu, dem Stolz zum Opfer zu fallen. Diese Überlieferung von Imam as-Sadiq (a.s.) verweist auf das wahre Heilmittel für Stolz: "Wisse, daß du nicht von der Finsternis des Stolzes und der Begierde befreit wirst, solange du nicht in Demut und Reue zu Gott umkehrst und dir deiner Fehler und Mängel bewußt wirst - das heißt jener Dinge, die nicht mit Vernunft und Intelligenz übereinstimmen, und die nicht von der Religion, dem göttlichen Gesetz und dem Lebensbeispiel der geistigen Führer gestützt werden. Wenn du mit dem Zustand zufrieden bist, in dem du dich befindest, dann sei dir bewußt, daß niemand in bezug auf deine eigenen Handlungen herzloser und böser, und daß niemand der Verschwendung von Lebensjahren gegenüber gleichgültiger ist als du selbst, und die Haltung verläßt dich letztendlich, um bitterer Verzweiflung am Tag der Auferstehung Platz zu machen." (Misbah ap- Pari 7a, Kap. 36)

20. Weitschweifige Erwartungen und Wünsche

Dieses Laster wird von der Verstandeskraft und der Leidenschaft verursacht und ist in Unwissenheit und Liebe zur Welt verwurzelt. Es schadet dem Menschen, indem es ihn mit irdischen Angelegenheiten beschäftigt und seine spirituelle Entwicklung verzögert. Um sich von dieser Krankheit zu heilen, muß man ständig an den Tod und an das zukünftige Leben denken mit dem Wissen, daß die irdische Existenz vergänglich ist und man alles, was man erwirbt, eines Tages zurücklassen und den Tod erfahren muß. Man muß die Erkenntnis im Inneren lebendig halten, daß das einzige, was man über die Kluft des Todes hinübertragen kann, gute Handlungen sind.

21.Auflehnung

Auflehnung (7isyan) bedeutet hier, Gottes Geboten nicht zu gehorchen. Dieses Laster gehört der Zorneskraft und der Leidenschaft an; sein Gegenteil ist Gehorsam und Gottesfurcht (taqwa).

22. Schamlosigkeit

Zu den Kräften des Zorns und der Leidenschaft gehörend, besteht dieses Laster aus Unverschämtheit und Hemmungslosigkeit bei verbotenen Handlun-

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gen. Sein Gegensatz ist Bescheidenheit und Scham (haya'), die ein Teil des Glaubens sind. Imam ja7far as-Sadiq (a.s.) sagte: "Bescheidenheit gehört zum Glauben, und der Glaube ist im Paradies. "

23.  Verharren in der Sünde

Verharren in der Sünde (al-israr 7ala-l-ma7siyah) ist ein schlimmer Zustand, und sein Gegenteil ist Umkehr (tawba). Wiederholung läßt Sünden als gewöhnliche, geringfügige, alltägliche Angelegenheiten erscheinen. Darum ist es notwendig, daß jemand, bevor ihm dies geschieht, über die bösen Folgen der Sünden nachdenkt und ihre schädlichen Wirkungen in dieser Welt und in der zukünftigen untersucht. Eine solche Betrachtung veranlaßt ihn, seine Sünden zu bereuen und wirklich traurig und beschämt darüber zu sein, daß er sie jemals begangen hat. Andererseits ist tawba oder Umkehr eine Rückkehr aus dem Zustand der Sündhaftigkeit. Ein noch höheres Stadium der Umkehr ist inabah, nämlich Abkehr von und Verzicht selbst auf erlaubte (mubah) Dinge. In diesem höheren Stadium der Umkehr strebt man beim Sprechen und Handeln einzig danach, Gott zu gefallen und sich ständig an Gott zu erinnern. Ein notwendiges Mittel der tawba ist muhasabah und muraqabah, was bedeutet, daß eine wahrhaft reumütige Person ständig mit sich selbst über ihre Handlungen abrechnet und die moralische Qualität ihrer Aktionen bedenkt. Eine Überlieferung besagt: "Rechne mit dir selbst ab, bevor mit dir abgerechnet wird."

24. Nachlässigkeit

Gaflah bedeutet Gleichgültigkeit und mangelnde Aufmerksamkeit; ihr Gegenteil ist Achtsamkeit und Entschlossenheit. Wenn das, was vernachlässigt wird, unsere letztendliche Glückseligkeit und unser Wohlergehen ist, dann ist es ein Laster. Demgegenüber ist Achtlosigkeit und Gleichgültigkeit bösen und gemeinen Dingen gegenüber eine Tugend. Das heißt, Sorgfalt und Aufmerksamkeit gegenüber bösen und gemeinen Dingen ist ein Laster, während Sorgfalt und Aufmerksamkeit gegenüber Dingen, die mit unserem Wohlergehen und unserer Glückseligkeit verbunden sind, eine Tugend sind. Sowohl Achtlosigkeit als auch Entschlossenheit oder Sorgfalt stammen entweder aus der Leidenschaft oder aus der Zorneskraft. Wenn beispielsweise jemand heiraten möchte, ist die Motivation für einen solchen Entschluß in der Leidenschaft verwurzelt und ist eine Tugend. Wenn jemand beschließt, sich gegen einen Feind zu verteidigen, dann ist dieser Entschluß in der Zorneskraft verwurzelt und ebenfalls eine Tugend.

Dies war eine allgemeine Beschreibung der Nachlässigkeit und Sorgfalt oder Entschlossenheit. Als ein in Qur'anversen und Überlieferungen benutzter Be-

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griff bezieht sich jedoch Achtlosigkeit auf die Gleichgültigkeit gegenüber wirklichen Zielen der menschlichen Existenz und den Mitteln zum Glück und Wohlergehen des Menschen in dieser Welt und in der zukünftigen; und sein Gegenteil, Entschlossenheit, wird auch als Willensklarheit und Zielstrebigkeit in diesem Sinne interpretiert. In diesem Sinne ist darum Achtlosigkeit immer schlecht und Entschlossenheit immer gut. Der Qur'an bemerkt folgendes über die Achtlosen: "Wir haben viele der Dschinn und Menschen geschaffen, die in die Hölle gelangen; sie haben Herzen, aber begreifen nicht, sie haben Augen, aber sie sehen nicht, sie haben Ohren, aber sie hören nicht. Sie sind wie das Vieh: nein, sie sind weiter abgeirrt. Diese sind die Achtlosen. " (Sure 7, Vers 197)

25. Abneigung

Abneigung (karahah) bezieht sich auf einen Zustand der Ablehnung gegen alles, was mit Schwierigkeiten und Mühe verbunden ist. Ihre Extremform ist maqt oder Haß. Das Gegenteil von karaha ist hubb oder Zuneigung. Hubb besteht in der Neigung der Seele zu angenehmen und nützlichen Dingen. Die Extremform von hubb ist 7ipq (Liebe). Abneigung kann gut oder schlecht sein; wenn jemand beispielsweise eine Abneigung gegen Jihad für Gottes Sache oder gegen Selbstverteidigung hat, dann ist dies höchst unerwünscht und tadelnswert. Wenn jemand hingegen eine Abneigung gegen häßliche Handlungen und Sünden hat, dann ist dies gut und höchst wünschenswert. Dieselbe Regel bezieht sich auf hubb, indem es ein wünschenswerter Zug ist, wenn jemand gute und nützliche Dinge liebt, nicht aber, wenn jemand schlechte Dinge liebt. Ein bemerkenswerter Punkt ist der, daß hubb im wesentlichen nur auf Gott ausgerichtet sein soll und auf alles, was mit dem Göttlichen verbunden ist. Dies ist die höchste Form von hubb. Wir sollten uns dessen bewußt sein, daß der wirkliche Geliebte Gott ist, und nur wenn der Mensch seinen wirklichen Geliebten verliert, wendet er sich fälschlich anderen Objekten seiner Liebe zu, wie Frau, Kindern, Eigentum, Status oder irgendeinem anderen irdischen Ding. Würde der Mensch seinen wirklichen Geliebten wiederfinden, dann würde er auch Befreiung von seinen endlosen, ziellosen Wanderungen finden. Um den wahren Geliebten zu finden, müssen wir erst alle die verschiedenen Formen von hubb kennenlernen. Im Grunde kann sich hubb auf neun verschiedene Dinge richten: 1 Hubb eines Menschen zu sich selbst, und das ist die stärkste Form von hubb.

2. Hubb eines Menschen zu Dingen außerhalb seiner selbst mit dem Ziel, physischen Genuß von ihnen zu erlangen, wie zu verschiedenen Arten von

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Speisen, Kleidern und anderen Dingen, die der Erfüllung physischer Bedürfnisse und Wünsche dienen.

3.  Hubb eines Menschen zu einem anderen Menschen aufgrund einer Freundlichkeit oder Dienstleistung, die dieser ihm erwiesen hat.

4.  Hubb eines Menschen für eine Sache aufgrund einer dieser Sache innewohnenden Güte, wie Schönheit oder Gerechtigkeit.

5.  Hubb eines Menschen zu einem anderen Individuum, ohne einen bestimmten Grund dafür finden zu können; nicht weil jenes Individuum Schönheit, Reichtum oder Macht oder etwas von dieser Art besitzt, sondern einfach durch die Existenz irgendeiner unsichtbaren spirituellen Verbindung zwischen ihnen.

6.  Hubb eines Menschen zu einem Individuum, das von einem entfernten Ort kommt oder das er während einer langen Reise kennengelernt hat.

7.  Hubb eines Menschen zu Kameraden und Berufskollegen, wie die Zuneigung eines Gelehrten zu einem anderen, eines Kaufmanns zu einem anderen usw.

8.  Hubb (Affinität) der Wirkung zu ihrer Ursache und umgekehrt.

9.  Hubb gewöhnlicher Wirkungen einer einzigen Ursache füreinander, so wie die Liebe zwischen Mitgliedern derselben Familie.

Wenn wir über diese Angelegenheit etwas nachdenken, kommen wir zu der Schlußfolgerung, daß, da Gott die Absolute Existenz ist und alles andere von Ihm abhängt, allem, was der Mensch vielleicht liebt, eine unabhängige eigene Existenz fehlt. Mit anderen Worten, da Gott die Letzendliche Realität ist, ist Er in der Tat das letztendliche Objekt wahrer Liebe, und alle anderen Arten der Liebe, die auf die Dinge gerichtet sind, sind sinnbildlich und imaginär. Auf diese Weise muß man seine Liebe sublimieren und ihre wirklichen Ziele entdecken, und dies ist nur dann möglich, wenn man folgende Bedingungen erfüllt:

1.  Man sollte einen brennenden Wunsch haben, Gott zu begegnen (liqa' Allah); mit anderen Worten, man sollte keine Furcht vor dem Tod haben. Die Handlungen sollten seiner Gewißheit entsprechen, daß er Gott nach seinem Tod begegnet.

2.  Man sollte Gottes Willen über seine eigenen Wünschen und Begierden stellen, denn dies ist eines der Erfordernisse der Liebe.

3.  Man soll Gott auch nicht einen Augenblick lang vergessen, so wie ein Liebender auch nicht eine Sekunde lang seine Geliebte vergißt.

4. Man soll nicht froh sein, wenn man etwas gewinnt, oder traurig, wenn man etwas verliert, denn wenn alle Aufmerksamkeit auf Gott konzentriert ist, sind alle anderen Dinge unwichtig.

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5.  Man soll Gottes Geschöpfen gegenüber freundlich und liebevoll sein, denn wer Gott liebt, der liebt sicherlich auch Seine Geschöpfe.

6. Man soll Gott fürchten, während man Ihn liebt, denn diese beiden Zustände stehen nicht im Widerspruch zueinander.

7. Man soll seine Liebe zu Gott geheimhalten.

Unter diesen Voraussetzungen wird Gott Seinen Diener lieben und Seine Verheißung erfüllen: "Sprich: 'Wenn ihr Gott liebt, dann folgt mir; Gott wird euch lieben und euch eure Sünden vergeben.'" (Sure 3, Vers 31)

26.  Unzufriedenheit

Unzufriedenheit (savax) besteht darin, daß man über Widerwärtigkeiten und Unglücksfälle, die einen befallen, so bekümmert ist, daß man darüber klagt. Das Gegenteil zum Laster des savax ist die Tugend riwa, d.h. Zufriedenheit und Genügsamkeit mit dem, was Gott will. Savax ist eine Art von karahah, und riwa ist eine Art hubb.

Es gibt viele Überlieferungen, die savax verurteilen und den Menschen auffordern, angesichts von Widerwärtigkeiten und Unglücksfällen geduldig zu sein, denn sie sind von Gott geschickte Prüfungen. Im Grunde genommen müssen wir erkennen, daß das Leben in dieser Welt aus Leiden, Schwierigkeiten, Krankheit und Tod besteht, und alle Menschen ohne Ausnahme müssen diese Dinge erleben. Darum müssen wir uns selbst dazu erziehen, mit diesen Schwierigkeiten umzugehen. Eine solche Bereitschaft ist riwa, und ihr höchstes Stadium ist vollständige Zufriedenheit mit dem göttlichen Willen. Folgendermaßen beschreibt der Qur'an solche Menschen: "Allah ist zufrieden mit ihnen und sie mit Ihm. Das ist ein großer Erfolg." (Sure 5, Vers 119) "...und sie geben sich mit dem Leben dieser Welt zufrieden und fühlen sich darin sicher..." (Sure 10, Vers 7)

Es sollte erwähnt werden, daß in den Ethikbüchern gewöhnlich die Begriffe taslim (Ergebung) und riwa (Zufriedenheit) synonym verwendet werden. Dies liegt an der nahen Verwandtschaft ihrer Bedeutung, denn jemand, der mit allem zufrieden ist, was Gott für ihn will, ist auch in allen Aspekten seines Lebens in Gottes Willen ergeben.

27. Betrübnis

Huzn bedeutet Trauer und Bekümmertsein, weil man etwas verloren hat oder etwas nicht erlangt hat. Huzn ist wie savax von karahah hergeleitet.

28. Fehlendes Gottvertrauen

Dieses Laster besteht darin, daß man für die Lösung seiner Probleme auf sekundäre Mittel vertraut statt auf Gott. Es wird durch mangelhaften Glauben

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verursacht und stammt von den Kräften des Verstandes und der Leidenschaft. Vertrauen auf sekundäre Mittel ist eine Form von pirk (Götzendienst). Das Gegenteil von diesem Laster ist tawakkul (Vertrauen) auf Gott in allen Aspekten des Lebens, mit dem Glauben, daß Gott die einzige wirksame Kraft im Universum ist. Dies ist die Bedeutung der folgenden Aussage "Es gibt weder Kraft noch Macht außer bei Gott." Und der Qur'an sagt ausdrücklich: "...Und wer auf Allah vertraut, dessen Genüge ist Er. " (Sure 65, Vers 3) Und der Prophet sagte: "Wer die Hoffnung auf alles außer Allah aufgibt, für dessen Lebensunterhalt sorgt Er." Hier ist anzumerken, daß der Begriff tawakkul nicht der Idee widerspricht, daß der Mensch sich bemühen muß, um von Gottes Gaben zu profitieren. Darum betrachtet der Islam es als obligatorisch für das Individuum, sich um den Lebensunterhalt für seine Familie zu bemühen, sich selbst zu verteidigen und für seine Rechte zu kämpfen. Es ist jedoch wichtig, alle diese sekundären Mittel als Gottes Autorität und Macht unterworfen zu sehen, ohne eigene unabhängige Rolle.

29.  Undankbarkeit

Kufran ist das Laster, undankbar für göttliche Segnungen zu sein, und sein Gegenteil ist pukr (Dankbarkeit). Die Tugend des pukr besteht aus folgenden Elementen:

1.  Anerkennung der Segnungen und ihres Ursprungs, nämlich der göttlichen Gnade.

2.  Freude über die Segnungen - nicht wegen ihres irdischen Wertes oder darüber, daß man sie erlangt hat, sondern für ihren Wert, daß sie uns Gott näherbringen.

3.  Handeln entsprechend dieser Freude, indem wir versuchen, in Wort und Tat die Ziele des Gebets zu verwirklichen.

4. Den Geber der Segnungen zu preisen.

5.  Die von Ihm gegebenen Gaben auf eine Weise zu nutzen, die Ihm gefällt. Unter "Segnungen" sind alle Dinge zu verstehen, die Freude, Nutzen und Glück bringen, sei es in dieser Welt oder in der zukünftigen. Der Heilige Qur'an sagt: "...Wenn ihr dankbar seid, werde Ich euch mehr geben; wenn ihr aber undankbar seid, dann ist Meine Strafe wahrlich furchtbar. " (Sure 14, Vers 7)

"Allah hat ein Gleichnis geprägt: eine Stadt, die sicher und in Ruhe ist, indem ihre Versorgung reichlich von überall herkommt - dann wurde sie für Allahs Segnungen undankbar; darum läßt Allah sie Hunger und Furcht kosten für das, was sie taten." (Sure 16, Vers 112)

30. Ruhelosigkeit

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jaza7 führt dazu, daß man schreit, sich ins Gesicht schlägt, die Kleider zerreißt und laut lamentiert, wenn man einem Unglücksfall gegenübersteht. jaza7 ist eines der Laster der Zorneskraft. Sein Gegenteil ist sabr (Geduld), die eine der edelsten Tugenden ist. Jedenfalls ist Jaza7 eines der Laster, die den Menschen zu Fall bringen, denn es ist im wesentlichen eine Klage gegen Gott und Ablehnung Seines Beschlusses. Sabr hingegen besteht darin, unter allen Umständen seine Ruhe zu bewahren und in allen Lebenslagen seine Pflicht zu tun. Sabr hat in verschiedenen Situationen unterschiedliche Funktionen: beispielsweise besteht sabr auf dem Kampfplatz darin, standhaft seine Pflicht zu erfüllen. Mit anderen Worten, es ist eine Form von Mut. Sabr im Zustand des Zorns besteht darin, sich selbst zu beherrschen, und ist gleichbedeutend mit hilm (Sanftmut). Sabr angesichts von Wünschen und Begierden ist 7iffah (Keuschheit). Sabr in bezug auf luxuriöses und extravagantes Leben ist zuhd (Enthaltsamkeit). Insgesamt ist sabr eine Tugend, die auf alle vier Kräfte bezogen ist. In der islamischen Überlieferung ist sabr immer sehr gelobt worden, und der Qur'an hebt diese Tugend, ihre Verdienste und ihren Lohn besonders hervor, und zwar an siebzig verschiedenen Stellen. Beispielsweise sagt er: "...Aber gib frohe Botschaft den Geduldigen, die, wenn ein Unglück sie trifft, sprechen: 'Wir gehören Allah an, und zu Ihm kehren wir zurück', -das sind diejenigen, die Segen und Barmherzigkeit erlangen von ihrem Herrn; sie sind die Rechtgeleiteten." (Sure 2, Verse 155-157) Und der Prophet (s.a.s.) sagte: "Das Verhältnis von sabr zum Glauben (iman) ist wie das des Kopfes zum Körper: So wie ein Körper nicht ohne Kopf leben kann, so kann Glaube nicht ohne sabr bestehen. "

Es gibt fünf Stufen von sabr in bezug auf die islamische pari7a: waJib (obligatorisch), haram (verboten), mustahabb (wünschenswert), makruh (verabscheut) und mubah (erlaubt). Ein Beispiel für "obligatorische sabr" ist die Enthaltsamkeit von verbotenen Vergnügungen und Wünschen. Ein Beispiel für "verbotene sabr" ist Geduld gegenüber Ungerechtigkeiten wie Unterdrückung oder Grausamkeit. "Wünschenswerte sabr" ist Standhaftigkeit in Handlungen, die wünschenswert (mustahabb) sind, während "abzulehnende sabr" auf das Tolerieren unzumutbarer Situationen bezogen ist. Schließlich bezieht sich mubah oder erlaubte sabr auf erlaubte Dinge. Daraus folgt, daß sabr nicht immer ein wertvoller Charakterzug ist, und sein Wert oder seine Wertlosigkeit hängt von seinem Ziel ab. Im allgemeinen ist das Kriterium, anhand dessen die verschiedenen Arten von sabr beurteilt werden können, dasselbe wie das, womit alle anderen Handlungen und Charakterzüge beurteilt werden; d.h. alle Handlungen, die die spirituelle Entfaltung des Menschen erleichtern, werden als wertvoll und lobenswert betrach-

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tet, und alle anderen Handlungen und Charakterzüge werden als schlecht und schädlich angesehen.

31. Sündhaftigkeit

Fisq bedeutet Ungehorsam gegenüber den obligatorischen Geboten der islamischen pari7a oder Handlungen auszuführen, die darin verboten sind; das Gegenteil ist ixa7ah (Gehorsam) gegenüber den Geboten Gottes, des Erhabenen. Ein großer Teil der göttlichen Gebote besteht in spezifischen Gottesdienstformen, die im Islam entweder als waJib oder als mustahabb betrachtet werden, nämlich Folgende: xaharah (Reinheit), salat (Gebet), du7a' (Anrufung), dikr (Gottgedenken), qira'ah (Qur'anrezitation), sawm (Fasten), haJJ (Pilgerfahrt nach Mekka), ziyarat an-Nabi (Besuch beim Grab des Propheten, s.a.s.), Jihad (Anstrengung für Gottes Sache), ada' al-ma7ruf (die vom islamischen Gesetz festgelegten finanziellen Verpflichtungen erfüllen, nämlich vums, zakat und sadaqa, d.h. freiwillige Spende).

An diesem Punkt nimmt al-Naraqi - Gottes Barmherzigkeit sei mit ihm - seine abschließenden Erörterungen auf, nämlich eine Abhandlung der soeben erwähnten göttlichen Gebote, ihrer Hintergründe und ihrer nützlichen Rolle bei der spirituellen Entwicklung und Entfaltung des Menschen. Da diese Erörterung hauptsächlich das islamische Recht (fiqh) betrifft, lassen wir sie der Kürze wegen aus.

Abschließend hoffen wir, daß Gott uns die Kraft gibt, uns moralisch zu verbessern, indem wir die in den obigen vier Abschnitten zusammengefaßten Ratschläge in die Praxis umsetzen. Es bleibt auch zu hoffen, daß ein sorgfältiges Studium und eine Untersuchung dieser kurzen Abhandlung über die islamische Ethik uns motiviert, ihre Grundsätze zu befolgen und damit dem Geist des Autors Freude und Zufriedenheit zu bringen.

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In der Reihe Islamisches Echo in Europa sind bisher erschienen:

1. Folge: Grundsätze des Islam, S. M. H. Beheschti

2. Folge: Das Gebet, M. M. Schabastari

3. Folge: Betrachtungen eines deutschen Muslim über den Islam, A. Röseler

4. Folge: Stellung der Frau im Islam, M. Motahari

5. Folge: Geschichten der Propheten aus dem Qur'an

6. Folge: Gutes gebieten und Schlechtes verwehren, M. Moghaddam

7. Folge: Jihad - nicht heiliger Krieg, M. Moghaddam

8.    Folge: Tauhid-Weltanschauung, Offenbarung, Prophetentum und Jenseits,                    M. Motahari

9. Folge: Bittgebete

10. Folge: 150 Aussprüche des Propheten, s.a.s. (arabisch-deutsch)

11. Folge: Die islamische Weltanschauung, S. M. H. Beheschti und

M. M. Schabastari

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