10. Die Auswanderung nach Abessinien

 

Von Tag zu Tag wurden die Leiden der Muslime größer. Die Verfolgung und Unterdrückung durch die Götzendiener waren kaum noch zu ertragen. Der Druck, den sie gegenüber den Muslimen ausübten, nahm ständig zu, doch damit konnten sie keinen Muslim von seinem Glauben abbringen. Das machte die Götzendiener nur noch wütender und erbarmungsloser in ihrem Hass und sie kannten nur noch ein Ziel nämlich die Muslime von ihrem Glauben an den einen Gott abzubringen.

Der Prophet und seine Familie standen unter dem Schutz Abu Talibs und des Stammes Bani Haschim. Die Qureischiten wagten es nicht, gegen sie vorzugehen. Doch viele Muslime waren Sklaven und sie waren den grausamen Torturen ihrer unerbittlichen Herren ausgesetzt.

Der Prophet wollte diesen Gläubigen unnötiges Leid ersparen und so wies er eine Gruppe von ihnen an, Mekka zu verlassen und sich nach Abessinien zu begeben. Der Negus, der abessinische Herrscher, war Christ und als gerecht bekannt. Er wurde den Muslimen sicherlich für einige Zeit Zuflucht gewähren und sie ihre Religion ausüben lassen, bis sie in ihrer Heimat wieder in Sicherheit leben konnten, So machte sich eine kleine Karawane auf den Weg.

Und tatsächlich wurden die ausgewanderten Gefährten des Propheten vom Negus freundlich aufgenommen. In ihrer neuen Umgebung konnten die 83 Muslime ihre Religion ungestört ausüben, Niemand verfolgte oder unterdrückte sie deshalb. Reisende berichteten in Mekka von dem friedvollen und ungestörten Leben, das die Muslime in Abessinien führen konnten. Nun fürchteten die Qureisch, der Islam könnte weitere Anhänger gewinnen und auf diese Weise immer mächtiger werden. Sie beriefen eine Versammlung ein und beratschlagten, was zu unternehmen sei. Schließlich einigten sie sich darauf, dass es wohl das Beste wäre, die Muslime wieder nach Mekka zurückzuholen, So konnte man all ihre Aktivitäten kontrollieren. Sie wählten zwei kluge und redegewandte Männer aus, die sie mit vielen prachtvollen Geschenken für den Herrscher und dessen Berater nach Abessinien schickten.

Die zwei Abgesandten suchten unmittelbar nach ihrer Ankunft die einflussreichen Berater des Herrschers auf und überreichten ihnen die Geschenke. Dann brachten sie die Sprache sogleich auf die Muslime: "Eine Gruppe junger und unerfahrener Männer unseres Stammes hat sich kürzlich von unserem Glauben und dem Glauben unserer Vorväter abgewandt. Sie sind nun in euer Land gekommen. Unsere Stammeseltesten haben uns nun entsandt, um euch aufzufordern, uns diese Männer auszuliefern. Es ist unser aufrichtiges Anliegen, dass ihr euch bei eurem Herrscher für unser Begehren einsetzt."

Die beiden Abgesandten der Qureisch besuchten viele einflussreiche Leute in Abessinien, und mit ihren vielen wertvollen Geschenken gelang es ihnen auch, diese für ihr Vorhaben zu gewinnen. Schließlich dachten die beiden jungen Männer, die Zeit sei gekommen, da sie ihren Wunsch dem Negus selbst vortragen sollten. Auch ihm überreichten sie prächtige Schätze, und wie sie es nicht anders erwartet hatten forderten die Berater den Herrscher auf, die Muslime wegzuschicken und sie den Gesandten der Qureisch zu übergeben.

Der Negus war jedoch nicht so ohne weiteres für dieses Vorhaben zu gewinnen. Er sprach: "Menschen, die ihr eigenes Land verlassen haben, um bei uns Zuflucht zu suchen, verdienen es, dass man sie zumindest anhört, bevor irgendeine Entscheidung über ihr weiteres Schicksal gefällt wird. Bringt die Flüchtlinge in meinen Palast, so dass ich hören kann, was sie zu dieser Angelegenheit zu sagen haben. Erst dann kann ich eine Entscheidung fällen."

Die Abgesandten der Qureisch wurden nervös. Sie wollten den Muslimen keinesfalls die Gelegenheit geben, mit dem Herrscher zu sprechen. Sie fürchteten das Resultat eines solchen Gespräches. Oft hatten sie über den Islam nachgedacht und sich gewundert, was daran für die Menschen so faszinierend war. Warum meinten die Menschen nur, dass die Verse, die Muhammad vortrug, Offenbarungen von Gott seien und warum erkannten sie nicht, dass Muhammad nur ein Zauberer war? Was, wenn die Auswanderer die Verse auswendig konnten und sie dem Herrscher vortrugen? Würde er am Ende vielleicht ebenso begeistert davon sein wie immer mehr Menschen in

Mekka? Doch es war zu spät. Der Herrscher bestand darauf, die Emigranten zu sehen.

Auch die Muslime hatten zwischenzeitlich erfahren, dass einige Abgesandte der Qureisch aus Mekka eingetroffen waren. Als sie nun in den Palast des Negus bestellt wurden, erkannten sie, dass sie sehr vorsichtig und überlegt sein mussten, um sich nicht unnötig einer Gefahr auszusetzen. Sie diskutierten die Angelegenheit und kamen schließlich zu einer Entscheidung.

Sie wollten nichts anderes als die Wahrheit sagen. Mit diesem Entschluss kamen sie zum Hof des Negus. Sie zeigten sich keineswegs beeindruckt von der Pracht des Palastes, sondern sagten würdevoll und mit selbstbewusster Stimme: "Friede sei mit euch". Die Berater des Negus waren empört. Diese Menschen näherten sich dem Negus hoch erhobenen Hauptes, welche Ungeheuerlichkeit. Doch ein Sprecher der Muslime erklärte: "Wir haben hier Zuflucht gesucht um unseres Glaubens willen, der uns lehrt, uns vor niemandem als dem Einzigen Gott niederzuwerfen."

"Was ist das für eine Religion, um derentwillen ihr euer Volk verlassen habt?", wollte der Negus wissen.

Der Sprecher der Muslime, Dscha'far ibn Abi Talib, sprach daraufhin: "0 König, bevor wir Muslime wurden, waren wir unwissende Menschen. Wir beteten Götzen an und wir aßen das Fleisch verendeter Tiere. Wir haben uns gegenüber anderen Menschen ungerecht und schlecht verhalten. Die Mächtigen und Reichen von uns machten sich die Armen und Schwachen untertan. Unsere Situation war so unmenschlich und hoffnungslos, dass Gott uns einen Propheten schickte, den wir alle seit langem als einen aufrichtigen, glaubwürdigen und tugendhaften Menschen kannten.

Der Prophet lud uns ein, Gott allein anzubeten und keine Götzen, die wir selbst aus Stein oder Holz gefertigt hatten. Er wies uns an, die Wahrheit zu sprechen und uns unseren Mitmenschen gegenüber anständig und gerecht zu verhalten, Er lehrte uns den Respekt vor dem Leben und den Lebewesen. Er verbot uns. Menschen zu verleumden und die Waisen um ihr Hab und Gut zu bringen. Er lehrte uns, dass Gott nur Einer ist und nichts Gleiches hat. Wir beten fünfmal jeden Tag und fasten einen Monat im Jahr. Sind das etwa keine göttlichen Lehren? Wir sind von diesen Lehren überzeugt und haben ihn als Propheten anerkannt und folgen ihm in dem, was Allah ihm offenbart hat.

Doch unseren Stammesältesten und unserem Volk missfällt das. Sie machten uns das Leben unerträglich. Und je länger wir uns weigerten, dem Islam abzuschwören, desto schlimmer wurden die Verfolgungen. Deshalb haben wir unsere Heimat verlassen und hier Zuflucht gesucht. Wir hoffen, hier friedlich leben zu können und gerecht behandelt zu werden."

Der Negus war sehr beeindruckt von den Muslimen und wollte wissen: "Kennt ihr einige der göttlichen Offenbarungen eures Propheten auswendig?"

Dscha'far bejahte, und der Negus forderte ihn auf einige Verse zu rezitieren, Dscha'far wählte absichtlich einige Verse aus, in denen von Mariam und Issa (Friede sei mit ihm), die Rede war und trug sie mit schöner und lauter Stimme vor. Alle waren tief beeindruckt.

"Bei Gott!" rief der Negus, "die Lehren des Islam sind vom gleichen Ursprung wie unsere Lehren!" Dann gab er Anweisung, den Gesandten der Qureisch alle Geschenke zurückzugeben. Die Muslime jedoch konnten in Ruhe und Sicherheit in Abessinien leben.